Wer nicht erinnert, wiederholt die Fehler
Wolfgang Benz ist Direktor des Instituts für Vorurteils- und Konfliktforschung e.V. in Berlin und leitete bis 2011 das Zentrum für Antisemitismus-Forschung an der Technischen Universität Berlin. Sein neues Buch trägt den Titel „Juden unerwünscht“. Es handelt von der Abneigung gegen die Überlebenden Opfer des Holocausts. Die Präsidentin der Akademie der Künste in Berlin, Jeanine Meerapfel, lud am Dienstagabend (17. Januar) Wolfgang Benz ein zu einer neuen Gesprächsreihe, die den schlichten Titel AKADEMIE-DIALOG trägt. Bernd Sobolla sprach dort vorab mit dem Konfliktforscher.

Gehört zu den bedeutendsten Antisemitismus-Forschern Deutschlands: Wolfgang Benz.
Bernd Sobolla: Herr Benz, nach dem Zweiten Weltkrieg ordneten die Alliierten an, dass jüdische Rückkehrer, z.B. ehemalige Juristen, wieder in die Justiz aufgenommen werden oder mit bedeutenden Ämtern betraut werden. Allerdings waren sie dort größtenteils umgeben von ehemaligen Nazis. Eine äußerst schwierige Situation. Was hätte man besser machen müssen?
Wolfgang Benz: Es bedurfte nicht unbedingt eines Befehls der Alliierten. Es waren ohnehin nur wenige, die wieder in frühere Ämter zurückkehrten. Es waren beklagenswert wenige, die überhaupt nach Deutschland zurückkamen. Beliebt aber waren sie unter keinen Umständen, denn sie waren ja lebende Mahnmale. Sie erinnerten daran, dass unter den Augen der Öffentlichkeit etwas Schreckliches geschehen war. Deshalb wäre es bequemer, komfortabler, angenehmer gewesen, sie wären dortgeblieben, wo sie sich vor dem Nationalsozialismus hatten retten können.
Ein Reflex der Verdrängung?
Es hatten nicht alle eine persönlich, messbare Schuld, die verdrängt werden musste. Für viele war das einfach unangenehm, viele schämten sich, als ihnen nicht zuletzt von den Alliierten klar gemacht wurde, was passiert war. Viele hätten auch lieber gewollt, dass das Geschehene nicht geschehen wäre. Alles Gründe genug, sich nicht erinnern zu wollen, den Kopf in den Sand zu stecken – und eine alte bürgerliche Unsitte – so zu tun, als sei nichts gewesen und zur Tagesordnung überzugehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat heute entschieden, dass die NPD zwar verfassungsfeindlich und ihr Konzept auf die Beseitigung der freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sei, dass sie aber dennoch nicht verboten werde, weil sie so unbedeutend sei.
Für mich ist das dennoch kein schwarzer Tag, denn ich glaube nicht, dass man mit einem Verbot ein politisches Problem lösen kann. Wenn der erste Antrag vor 13 Jahren nicht so unglaublich dilettantisch gemacht worden wäre, hätte das damals vielleicht mehr Sinn gehabt. Damals hatte die NPD eine Bedeutung und war in verschiedenen Landtagen vertreten. Aber sie hat sich ja nun selbst zugrunde gerichtet. Sie hat die Radikalisierung, mit der sie Erfolg haben wollte, selbst nicht überstanden. Und wenn sie jetzt das Etikett hat „widerlich, verfassungsfeindlich, dem Nationalsozialismus nahe, aber nicht gefährlich, weil es zu wenige sind“, dann bin ich als Demokrat und Bürger ganz zufrieden. Mir macht viel mehr Sorge die sogenannte Alternative für Deutschland, weil das die Herrschaften mit Schlips und Kragen sind und man sich dort als Akademiker auch sehen lassen kann. Ich halte die für genauso widerlich und für gefährlicher.

In der Akademie der Künste sprach Wolfgang Benz über sein neues Buch „Juden unerwünscht“. (Metropol Verlag)
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Fehler der Vergangenheit und dem Aufschwung, den wir bei den Rechtspopulisten heutzutage erleben?
Das hat miteinander nichts zu tun. Das sind ja Generationen darüber hinweg gegangen. Das war ein Problem der Generationen, der Handelnden der Miterlebenden der 30er, 40er, 50er, 60er Jahre. Sie fielen der deutschen Ideologie zum Opfer. Man darf es sich nicht zu einfach machen. Nach dem Motto: Weil die Entnazifizierung nicht energisch genug durchgeführt wurde, haben wir heute wieder diese Probleme. Das glaube ich nicht. Vielmehr liegt es zutiefst in der menschlichen Natur. Man will nicht an das Böse erinnert werden, für das man mitverantwortlich ist, für das Böse, das möglicherweise die Eltern getan haben.
Sie beschreiben in Ihrem Buch die Mehrheit als das Grundproblem. Können Sie das ausführen?
Die Mehrheit braucht für ihr Selbstbewusstsein die weniger Guten, braucht diejenigen, die man guten Gewissens ausgrenzen kann, weil sie einen vermeintlichen Makel haben. Ihnen wird ein Makel zugeschrieben. „Die Juden, alle wissen das, sind nur am Geld interessiert. Die Juden sind Wucherer, die nicht Nicht-Juden übers Ohr hauen!“ Dass die Juden von allen Zünften, allen Berufen ausgeschlossen waren, so dass ihnen nur der Handel und auch nur der Geldhandel blieb, darüber kein Wort. Dass man Sinti und Roma lange Zeit keine Wohnungen gab und sie so zum Herumreisen zwang, kein Wort. „Die integrieren sich nicht. Die sind nicht assimilationsfähig!“ Die Mehrheit braucht die Minderheit, um sie ausgrenzen zu können. Es handelt sich um ein Delegationsverfahren: Wenn wir das Schlechte auf die Minderheit delegieren, sind wir selber großartig.
Und wenn Zweifel aufkommen?

Wolfgang Benz: „Wir sollten darauf achten, nicht die gleichen Fehler zu machen.“
Dann kommt das unwiderlegbare Beispiel: „Mein Ur-Großvater kannte einen, dessen Schwager wurde einmal von einem – beliebig einzusetzen: Zigeuner, Juden, XY so schrecklich betrogen…“ Daraus geht hervor: Wenn die Familiensaga einem Verwandten an diese Unglück erinnert, dann muss das Kollektiv schlecht sein. Denn die andere Erkenntnis – „Wir grenzen aus, weil das unserem Wohlbefinden dient“ – ist schwer zu ertragen. Der Schulunterricht in Deutschland ist in Sachen Aufklärung übrigens sehr anständig. Aber der beste Ethikunterricht kann durch einen nölenden Großvater oder Onkel im Familienkreis mit zwei Bemerkungen vollkommen zunichte gemacht werden, weil er als glaubwürdiger eingestuft wird und Macht hat.
Aus der historischen Erfahrung heraus. Worauf sollten wir im Umgang mit Flüchtlingen besonders aufpassen? Mit Flüchtlingen, die heute hauptsächlich aus islamischen Ländern kommen.
Wir sollten natürlich darauf achten, dass wir denselben Fehler nicht wieder gegenüber einer anderen Minderheit oder gegenüber anderen Minderheiten begehen. Der Völkermord an den Juden begann mit der alltäglichen Diskriminierung, mit der Ausgrenzung. Daraus wurde Verfolgung. Unter dem Kampfruf „Die gehören nicht zu uns! Die müssen hinaus! Die müssen wir vertreiben! Die müssen wir ausgrenzen!“ Wenn wir jetzt gegenüber Muslimen dasselbe machen, was den Juden widerfuhr – die Juden wurden diskriminiert, weil sie Juden waren; aus keinem anderen Grund -, wenn wir jetzt Muslime diskriminieren, weil sie Muslime sind, wenn wir Sinti und Roma diskriminieren, weil sie dieser Ethnie angehören, begehen wir denselben Fehler wieder. Dann war die ganze Erinnerungskultur für die Katz.

Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel zeigte sich entsetzt darüber, dass das Bundesverfassungsgericht die NPD nicht verbot.
*Sie haben vor Kurzem bei einer Konferenz am Zentrum für Antisemitismus-Forschung zum Verhältnis von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit gesprochen. Autoren wie Daniel Goldhagen und Julius Schoeps kritisierten den im Programm angekündigten Vergleich als Gleichsetzung, die qualitative Unterschiede zwischen beiden Vorurteilsstrukturen verwische und damit Gefahr laufe, die Besonderheiten des Holocaust einzuebnen.
Ich habe erst gelacht, bis ich dann doch betrübt wurde über diese Vorwürfe. Ich glaube, dass meine These völlig richtig ist. Wenn jetzt Vertreter der Minderheit aufheulen und sagen: „Ja, der vergleicht ja Juden und Muslime…“ dann haben sie erstens nicht aufgepasst, vielleicht haben sie aber auch ein intellektuelles Problem. Ich vergleiche nicht Muslime und Juden. Dazu habe ich auch nicht die geringste wissenschaftliche Kompetenz. Ich mache aber aufmerksam auf Verhaltensweisen der Mehrheit und versuche, die Gründe festzustellen, warum die Mehrheit gegenüber verschiedenen Minderheiten vollkommen gleichförmig agiert. Eine vergleichende Vorurteilsforschung halte ich für höchst notwendig. Denn nur emotional das Geschick der einen Minderheit zu betrauern, gleichzeitig einer anderen Minderheit mit ganz ähnlichen Vorwürfen entgegenzutreten, beweist doch, dass man nicht genug nachgedacht hat oder dass da noch Lerndefizite sind. Es kommt einzig darauf an, dass Menschen- und Bürgerrechte für alle gelten und dass sich die Mehrheit mit diesem Problem auseinandersetzen muss. Das nimmt dem Holocaust nichts von seiner Einzigartigkeit. Das ist die Wissenschaft, die notwendig ist, als ein Service an der Gesellschaft, dass sich nichts Grässliches an anderen Opfern wiederholt.
*(Diese Frage stellte Jeanine Meerapfel)