Sebastian Hilger – „Wir sind die Flut“

„Wir sind die Flut“ startet am 10. November im Kino

Vom Schlummern der Kräfte einer ganzen Generation

Zwei junge Physikstudenten aus Berlin fahren an einen Ort an der Nordseeküste, wo vor fünfzehn Jahren die Flut verschwand und bis heute nicht zurückgekehrt ist. Am selben Tag verschwanden auch fast alle Kinder des Dorfs – man vermutet ertrunken. Eine vereinsamte Dorfgemeinschaft, Naturgesetze, die außer Kraft gesetzt werden, „Wir sind die Flut“ ist ein Genrefilm. Aber es ist auch ein Film, mit dem der 31-jährige Regisseur Sebastian Hilger die Situation seiner einst optimistischen Generation schildert.

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„Wir sind die Flut“: Nur selten versuchen sich hierzulande Filmemacher am Genrefilm. „Wir sind die Flut“ ist eine der wenigen Ausnahmen. (Foto: derzian pictures)

 

Bernd Sobolla: Sebastian Hilger, „Wir sind die Flut“ ist ein Mystery Film, ein Werk, das physikalische Grenzen in Frage stellt und das darüber hinaus von einer Dorfgemeinschaft erzählt. Welcher Aspekt stand am Anfang des Filmprojekts?

Sebastian Hilger: Da muss ich lange zurückdenken, weil die Idee zu dem Film schon sechs oder sieben Jahre alt ist. Eigentlich ging es am Anfang um ein Bild, das wir hatten. Dieses Bild von der Ebbe, die immer bleibt. Es folgt keine Flut mehr. Diese Idee faszinierte uns. Wie sich plötzlich da draußen auf dem Meer eine Fläche bildet. Einerseits ein Ort, der grenzenlos ist und der gleichzeitig maximale Freiheit verspricht. Zugleich löst diese Idee aber auch aufgrund ihrer Endlosigkeit eine gewisse Angst bei uns aus: Die urtümlichste aller Uhren, die es gibt – Ebbe und Flut – auf die man sich immer verlassen kann, löst sich auf. Was macht das mit den Leuten?

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Sebastian Hilger gelingt nicht nur ein Mystery Film, er schildert zugleich das Gefühl der „Generation Y“.

Heißt das, dass es keinen Zeitungsartikel oder Ähnliches gab, der eine Katastrophe schilderte, in der Kinder oder Teile einer Dorfgemeinschaft ums Leben kamen?

Nein, so etwas gab es nicht. Es war mehr der Gedanke: Ein Ort da draußen, eine Fläche, die wie eine leeres Blatt wirkt, das eine Sogwirkung oder eine Versuchung auf die Leute ausübt. Später ist uns aufgefallen, dass es eine Ähnlichkeit mit der Rattenfängergeschichte gibt. Auf jeden Fall kann ein solcher Ort eine Versuchung ausüben. Es kann auch ein Ort sein, an dem man die Träume konservieren kann, die man im Rahmen des Erwachsenwerdens zunehmend verliert. Die Frage, was passiert, wenn Kinder aus dem Dorf verschwinden, war für uns nicht so wichtig wie die metaphorische Ebene.

Über „Umwege“ über unsere Welt reflektieren

Häufig wird kritisiert, dass in Deutschland fast keine Genrefilme gedreht werden. Wollten Sie da auch ein Zeichen setzen?

Absolut! Meine Mitstreiter und ich sind als Kinder mit Genrefilmen groß geworden: „Blade Runner“ und „Alien“, „Star Track“ und Jurassic Park, all diese Filme, die vor allem aus den USA kommen. Das sind Filme, die uns begeistert haben, selber Filmemacher zu werden. Für mich als Filmemacher ist aber der Genrefilm nur dann interessant, wenn er das Genre als eine Folie benutzt, um eine Geschichte über unsere eigene Welt zu erzählen. Filme, in denen Aliens die Welt erobern, interessieren mich nicht. Für mich sind das auch keine Genrefilme. Für mich sind Genrefilme interessant, wenn sie etwas über unsere Welt erzählen, einen sozialen, soziologischen oder psychologischen Umstand schildern und diesen auf die Folie einer anderen Welt transportieren, in der aber andere Regeln gelten. Und die über diesen „Umweg“ über unsere Welt reflektieren. Das versuchen wir zu machen; aber das ist in Deutschland sehr schwierig. Wenn hierzulande Filmemacher sich an Genrefilme versuchen, geht diese Doppelbödigkeit leider meist verloren. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Das haben wir in den letzten 50 Jahren fast verloren, es gibt keine Tradition mehr in Deutschland.

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Der Physikstudent Micha (Max Mauff) dringt allmählich in die verschlossene Dorfgemeinschaft ein. (Foto: derzian pictures)

Für mich bekommt „Wir sind die Flut“ eine besondere Dynamik im letzten Viertel. Da gibt es einen schönen inneren Dialog Ihrer Protagonistin: „Als Kinder träumten wir von einer besseren Welt, wollten eine Bewegung sein, wollten viele sein – so wie die Flut. Jetzt, da wir älter sind, hat die Ebbe uns längst eingeholt. Doch wir haben keine Angst mehr, denn sie ist ein Teil von uns. Wir sind im Aufbruch, gerade dabei Pläne zu schmieden. Auch wenn ihr es noch nicht merkt. Einer ist rausgegangen und hat die Flut zurückgebracht…“ Gehe ich zu weit, wenn ich das als Anklage eines Filmemachers an seine eigene Generation verstehe, die sich mit den gesellschaftlichen Umständen einfach arrangiert hat?

Ich glaube schon, dass der Film versucht zu ergründen, warum unsere Generation, also die Leute, die jetzt so um die 30 sind, oft „Generation Y“ genannt…

„Generation Y“? Der Begriff ist mir nicht geläufig.

Das sind Leute, die in großer wirtschaftlicher Sicherheit aufgewachsen sind, die von ihren Eltern immer gehört haben: „Du kannst alles erreichen, wenn Du nur hart genug dafür kämpfst!“ Und wir stellen bei vielen unserer Altersgenossen fest, dass sich dieser Glaube, alles erreichen zu können, sehr festgesetzt hat. Dass aber der Hammer der Realität umso heftiger kommt, wenn man dann ins Erwachsenenleben, d.h. auch ins Berufsleben eintritt, und viele in eine Art Depression verfallen, die oft mehrere Jahre andauert. Denn plötzlich merken sie: „Eigentlich hat keiner auf uns gewartet. Das System besteht und niemand will neuen Ideen hören.“ Das gilt übrigens auch für den filmischen Bereich. „Wir sind die Flut“ versucht die Energie, die in den Leuten steckt, die vielleicht durch diese Depression verschüttet worden ist, ein Stück weit wieder hervorzubringen. Es steckt so viel in unserer Generation. Wir haben so viele Kräfte, die dort uns schlummern. Ich würde es gerne sehen, wenn es mehr Leute gäbe, die diese Verantwortung ergreifen und versuchen, ihre Ideen, auch wenn sie merken, dass diese nicht gefragt sind, trotzdem einzubringen. Das gilt gesamtgesellschaftlich, aber auch auf den Filmsektor bezogen.

Die Depressionen der Generation aufdecken

Ein Grund, warum ich Ihren Film nicht als Mystery-Film bezeichnen möchte, hat weniger mit den Bildern oder den Dialogen zu tun, sondern mit der Musik. Die nämlich ist unheimlich eindringlich, fast ein symphonisches Werk, und sie trägt eine große Melancholie in sich.Welche Idee steckt hinter der Musikkomposition?

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Micha (Max Mauff) entdeckt „seine“ Berechnungen im Zimmer eines Kindes, das einst verschwand. (Foto: derzian pictures)

 

Der Filmmusiker Leonard Petersen ist ein Berliner Kollege, mit dem ich lange an dem Konzept für die Musik gearbeitet habe. Mein Ziel war es, mit der Musik, wie Sie richtig feststellen, weniger auf ein Moment der Spannung zu gehen (Wie geht es weiter? Werden die Figuren überleben?), sondern die Enttäuschung der Charaktere, ihre Unzufriedenheit mit ihrem Leben auszudrücken. Also die Depression der Generation aufzudecken, von der ich eben sprach. Es ist eher eine Innenperspektive. Und zum Ende hin werden die Figuren handlungsaktiver. Vor allem die Hauptfigur versucht, den Schmerz, der in ihr steckt, abzulegen und wieder Energie zu erzeugen, Bewegung ins Leben zu bringen. Und mit dieser Handlung wird auch die Musik energetischer. Der Film versucht zu zeigen, wie der Protagonist, der am Anfang eher ein verkopfter Typ ist und alle Probleme mit dem Verstand lösen will, wie er lernen muss, zu seinem Gefühl zurückzufinden, vielleicht sogar zu seinem kindlichen Sein. Damit wollen wir den Zuschauer auf eine emotionale Reise mitnehmen, in der es vielleicht auch keine klaren Antworten gibt, aber im besten Fall emotionale Antworten, die befriedigen. Die Musik nimmt einen mit wie auf eine Art Traumreise, obgleich der Film am Anfang ziemlich normal beginnt.

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Traut sich auch musikalisch „dick“ aufzutragen, Regisseur Sebastian Hilger.

Auf jeden Fall wirkt die Musik fast körperlich auf den Zuschauer.

Die Musik ist oft ein Zankapfel. In Deutschland gibt es im Kino, aber vielleicht auch gesamtgesellschaftlich, eine Furcht vor Emotionen. Das ist vielleicht ein Überbleibsel unsere Nazi-Vergangenheit, wo sich die Menschen durch Propaganda haben täuschen lassen. Auch im Kino habe ich oft das Gefühl, dass sich die meisten Filmemacher ein bisschen zurückhalten. Es gibt eine Angst, dass man mit der Musik vielleicht zu dick aufträgt. Aber mit Leonard Petersen haben wir uns entschlossen, mit der Musik groß aufzumachen. Und ich bereue das auch nicht, weil wir vom Publikum auf Festivals eine sehr positive Resonanz bekommen haben.

Wissenschaftlichen Ratgeber im Max-Planck-Institut

Die Ebbe bleibt ewig erhalten, und dafür gibt es auch einen physikalischen Grund. Wie sieht es da mit dem Wahrheitsgehalt aus?

Der Film ist begleitet worden von einem wissenschaftlichen Berater vom Max Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Der hat uns von der Drehbuchentwicklung über die gesamte Produktion des Films begleitet. Als wir zum ersten Mal beim ihm saßen und ihm davon erzählten, hat er gesagt: „Ne, das ist unmöglich. So etwas kann es nicht geben!“ Da brach zunächst in uns eine Filmwelt zusammen. Wir waren ziemlich frustriert und wollten schon unsere Sachen zusammenpacken. Und dann meinte er: „Okay, mal angenommen, es gäbe dieses Phänomen. Wie könnte es entstanden sein? Und was wären die Resultate, die daraus entstehen würden? Und das war genau der Punkt, wo wir angesetzt haben. Das hat er mit seinen Kollegen für uns entwickelt und hat das Szenario auch berechnet. Und wir haben es benutzt. Das war für uns ein ganz großes Geschenk. Denn es geht im Film ja auch um zwei junge Wissenschaftler, die versuchen ihre Post-Graduate-Arbeit zu verfassen. Also sollte ihre These, mit der sie sich auf den Weg machen, authentisch gestaltet sein. Und das ist für uns der Punkt, wo Science-Fiction im besten Sinne entsteht.

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