Über Deutschland und Israel, Sozialismus und linken Antisemitismus, Rechtsradikalismus und Schuld
Inge Deutschkron wurde 1922 in Finsterwalde geboren und wuchs in Berlin als Kind jüdischer Eltern auf. Mit Hilfe von Freunden tauchte sie 1942 unter und überlebte die Nazizeit. Nach dem Krieg ging sie nach England, kehrte Mitte der 50er Jahre nach Deutschland zurück und arbeitete bis 1972 als Journalistin für die israelische Zeitung Maariv in Bonn. Anschließend lebte sie lange in Israel, kam aber 1988 nach Berlin, um bei den Proben zu ihrem Stück „Ab heute heißt du Sara“ dabei zu sein. Aufgrund der vielen Einladungen zu Vorträgen, die dann folgten, ließ sie sich wieder in Berlin nieder.
Bernd Sobolla: Frau Deutschkron, der Moses-Mendelssohn-Preis wird für die Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen Völkern, Rassen und Religionen verliehen. Welche Bedeutung hat der Preis für Sie?
Inge Deutschkron: Das hat mich sehr bewegt. Und dass er von der Stadt Berlin kommt, ist mir natürlich wichtig. Das Bundesverdienstkreuz habe ich immer abgelehnt. Zum einen wird es verteilt wie Sand am Meer, so dass es eigentlich keinen Wert mehr hat. Zum anderen habe ich so viel Schreckliches in der Bundesrepublik erlebt und bin so schlecht behandelt worden, dass es geschmacklos wäre, wenn ich so ein Ding annehmen würde.
Ich habe erlebt, wo Intoleranz hinführt
Ihr Leben in Deutschland ist geprägt von Erniedrigung und Enttäuschung. Woher nehmen Sie Ihre Toleranz?
Erstens bin ich so erzogen worden, zweitens versuche ich zu zeigen, was Toleranz ist, gerade weil ich erlebt habe, wo Intoleranz hinführt. Wenn jemand das erlebt hat, ist das doch ganz natürlich. Ich bin als Sozialistin erzogen worden, und da gibt es bestimmte Maxime, die bei mir fest verankert sind.
Was war Ihr schrecklichstes Erlebnis?
Das war der 28. Februar 1943, der Tag, an dem ich restlichen Juden aus Berlin abgeholt wurden. Berlin wurde „judenrein“ gemacht. Aus meinem Versteck konnte ich es beobachten. Das habe ich nie überwunden, denn der Schuldkomplex tauchte auf: Ich rette mich, und die anderen werden umgebracht.
Ihr Leben war immer vom Kampf geprägt. Gab es Momente, wo Sie aufgeben wollten?
Ganz selten. Während der Nazizeit hatte ich immer dieses Trotzgefühl, dass ich es diesen Kerlen zeigen müsse. Als ich 1956 nach Bonn kam und die Alt-Nazis in den Institutionen sah, war das eine große Enttäuschung. Wenn ich es wagte, gegen Leute wie Globke, Vialon oder Krüger zu sprechen, hieß es immer: „Die Deutschkron leidet ja an Naziphobie.“ Da gab es Momente, wo ich mir sagte: „Bist Du denn verrückt, warum gehst Du nicht?“ Aber ich wollte nicht, dass mir Nazis mein Programm diktieren.
Der 1. Mai war wichtiger als eine Ferienreise
Womit begann Ihr politisches Wirken?
Nach dem Krieg habe ich die Falken in Berlin- Wilmersdorf mit gegründet, aber mit der Politik war ich schon aufgewachsen. Bereits als Sechsjährige faltete ich Flugblätter und nahm an Demonstrationen gegen die Nazis im Lustgarten teil. Mein Vater war Lehrer und 2. Abteilungsleiter der SPD am Prenzlauer Berg. Politik war das Selbstverständlichste, was es gab, und der 1. Mai für mich wichtiger als eine Ferienreise.
Ihre erste politische Aktion im neuen Deutschland war der Kampf gegen die Zwangsvereinigung von KPD und SPD. Kein sonderlich erfolgreicher Kampf.
In gewisser Hinsicht schon. Die Tatsache, dass es eine Urabstimmung in der SPD gab, die sich gegen die Vereinigung aussprach, war sehr wichtig. Sie hat mit dazu geführt, dass Berlin frei blieb. Wenn die SPD auch in Berlin in der SED aufgegangen wäre, hätte es kaum eine politische Kraft gegen den Koloss gegeben. Somit hat die SPD mit der Urabstimmung und mit ihrem Kampf gegen die Zwangsvereinigung etwas für die Freiheit Berlins getan.
Tauchte bei Ihnen als Sozialistin der Gedanke auf, die DDR könnte ihre politische Heimat werden?
Für mich gibt es nur den demokratischen Sozialismus, wo jeder nach seiner Fasson leben kann, die gleichen Möglichkeiten hat, und nicht diesen zwanghaften realexistierenden Sozialismus, wo Menschen eingesperrt werden.
Wo sehen Sie die Ansätze für einen solchen Sozialismus?
Israel hat das viele Jahre vorgeführt.
Heute sieht das anders aus.
Aber es geht nicht nur darum, wer an der Macht ist, sondern was es für Institutionen gibt, z.B. den Kibbuz. Auch haben die Gewerkschaften eine unglaubliche Rolle beim Aufbau des Staates gespielt.
Die Kibbuze haben schon lange nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher.
Aber sie sind immer noch wichtig und haben sich sogar zu industriellen Sektoren entwickelt. Noch immer leben sehr viele Menschen dort. Und von den Kindern, die dort aufwachsen, werden rund 50 Prozent bleiben. Das ist eine hohe Quote.
Helft uns dabei, Demokratie aufzubauen!
1946 gingen Sie mir Ihrer Mutter nach England, wohin ihr Vater bereits 1939 emigriert war, und lebten dort bis 1954. Wie erlebten Sie diese Zeit?
Mein Vater war mir fremd geworden. Die entscheidenden Erlebnisse dieser Zeit hatte er ja nicht miterlebt. In England kümmert er sich nicht mehr um Politik, weil er der Meinung war, er hätte alles falsch gemacht, falsch eingeschätzt. Wie viele Emigranten hatte er geglaubt, dass man ihn nach dem Kriegsende nach Deutschland zurückholen würde. Aber es kam nichts. Ich bin mir sicher, dass viele Leute zurückgekommen wären, wenn dieser Staat sie angesprochen hätte: „Wir haben Euch Fürchterliches angetan, aber wir brauchen Euch heute hier, um eine Demokratie aufzubauen. Helft uns dabei, kommt zurück!“
Warum blieb der Ruf aus?
Die Deutschen wollten nichts von der Vergangenheit wissen, statt aufzuarbeiten wurde verdrängt. Und Leuten wie Willy Brandt warf man vor, Landesverräter gewesen zu sein, weil sie eimigriert waren. Emigranten ins Land zurückzuholen, das passte nicht. In diesem Sinn hat der Adenauer-Staat sehr viel Schuld auf sich genommen. Ralph Giordano nannte dies „Die zweite Schuld“.
Eine Beziehung zum Judentum habe ich bis heute nicht bekommen
Obwohl Ihnen die israelische Arbeiterbewegung eine Stellung angeboten hatte, lehnten Sie ab und gingen stattdessen 1955 nach Bonn, um als Journalistin zu arbeiten. Warum?
Ich hatte keine Beziehung zu Israel, ich bin nicht als Jüdin aufgewachsen. Bei uns gab es einen Weihnachtsbaum und Ostereier, aber keine jüdischen Traditionen, keine Kultgegenstände, nichts. Meine Mutter hatte mir erst 1933 gesagt, dass ich Jüdin bin. Eine Beziehung zum Judentum habe ich bis heute nicht bekommen. Aber in Deutschland gab es viele Menschen, Freunde, die ihr Leben für mich riskiert hatten. Dazu habe ich mir eingeredet, ich könnte beim Wiederaufbau mitarbeiten. Die Regierung sitzt in Bonn, und wenn ich was tun kann, dann in Bonn. Das war natürlich ein großer Fehler. Für eine Berlinerin war Bonn eine Strafe. Eine provinzielle Kleinstadt, die auch durch die Regierung nicht anders wurde.
Haben Sie je daran gedacht, eine Familie zu gründen?
Dazu hatte ich gar keine Gelegenheit. In meiner Bonner Zeit hatte ich zwei Beziehungen. Als sich der erste Mann von mir trennen wollte, schrieb er mir, dass er in der NSDAP gewesen sei – eine Ausrede. Er zweite erzählte mir, nachdem ich mit ihm sieben Jahre zusammengelebt hatte, dass seine Mutter zunehmend antisemitische Bemerkungen mache und er mir das nicht zumute könne. Er wolle sie deshalb nur noch allein besuchen. Diese Zeit nutzte er, um sich mit einer anderen Frau zu treffen. Mit Argumenten dieser Art versuchte man, eine Jüdin loszuwerden.
Israel war sozialistischer als alle Staaten, die die anhimmelten
Was war ausschlaggebend dafür, dass Sie 1972 nach Israel gingen?
Ich war bereits 1966 aus der SPD ausgetreten und wollte nach Israel gehen. Meine Zeitung hielt mich aber immer noch in Bonn zurück. Dann kam die 68er Bewegung in einer für mich sehr negativen Form. Zum ersten Mal gab es Menschen, die sich ernsthaft mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzten, und die wurden dann aggressiv gegen Israel. Diese dümmlichen Behauptung, dass Israel ein imperialistischer Staat sei, den man bekämpfen müsse. Dümmer ging es schon gar nicht mehr. Es war enttäuschend und gleichzeitig fast komisch, dass Studenten, von denen man annimmt, sie hätten ein bisschen Grips im Kopf, so einen Quatsch redeten. Israel war sozialistischer als alle Staaten, die die anhimmelten: Mao z.B. der 10 Millionen Menschen umgebracht hat. Und die einzige Begründung dafür war, dass Israel von Amerika abhängig war – wirklich sehr intelligent. Dann ist der israelische Botschafter Ascher Ben-Nathan auch noch tätlich angegriffen worden, und in Hamburg gab es Schlägereien zwischen israelischen Matrosen und linken Demonstranten.
Glaubten Sie damals, endgültig mit Deutschland gebrochen zu haben?
Absolut! Ich wollte sogar meinen Pass abgeben. Mein Chefredakteur überzeugte mich aber, dass ich ihn behalten sollte, um für die Zeitung Reisen in Länder zu unternehmen, die für Israelis nicht zugänglich waren. 1987 besuchte mich dann Volker Ludwig vom Grips-Theater, um mit mir das Stück „Ab heute heißt du Sara“ (Buch: „Ich trug den gelben Stern“) zu besprechen. Dabei fragte er mich, ob ich mir vorstellen könnte, noch einmal in Deutschland zu leben. „Wie kommen Sie denn darauf? Auf keinen Fall!“ war meine Antwort.
Das macht Israel so interessant
Als Israel 1948 gegründet wurde, hatten sie keine Bindung an den jüdischen Staat. Hat sich das verändert?
Zur Religion habe ich natürlich keine Bindung. Aber Israel war und ist der Staat der Verfolgten. Sie flohen aus Chile, als Allende ermordet wurde, aus Argentinien der Militärdiktatur, aus der Sowjetunion, aus dem Jemen usw. Jeder bringt seine Kultur mit und das macht Israel so interessant.
Das Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“ hat Sie wieder nach Berlin gebracht.. Was verbindet Sie heute mit Berlin?
Sie werden lachen, vor allem die Sprache. Ich bin in Prenzlauer Berg aufgewachsen, und meine Mutter war immer sehr unglücklich, dass ich nur Berlinerisch sprach, und befürchtete, dass ich nie Hochdeutsch sprechen könnte. Sie hatte recht. Erst als ich zurückkam, merkte ich, wie viel es bedeutet, wenn man sprechen kann, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Berlinerisch ist meine Muttersprache, die kommt von Herzen.
Mein Briefkasten quoll mit Schmähbriefen über
Besonders sicher fühlen Sie sich aber nicht in Berlin. Ihre Telefonnummer kennen nur Freunde.
Mit der Welle des Rechtsradikalismus 1991 quoll mein Briefkasten über mit Schmähbriefen, wie man sie früher im „Stürmer“ lesen konnte. Auf den Briefen standen sogar die Absender. Die machen gar keinen Hehl daraus. Am schlimmsten fand ich die anonymen Anrufer: „Du alte Judensau, mach, dass du wegkommst!“
Sie sprechen seit vielen Jahren in Berliner Schulen als Zeitzeugin über Rechtsradikalismus und Rassismus. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
In der ganzen Zeit gab es nur zwei Enttäuschungen: In Hohenschönhausen in Ost-Berlin begleitet mich ein Fotograf zu einer Einladung. Kaum hatten wir die Klasse betreten, stürmte ein Mädchen auf den Fotografen zu: „Bitte fotografieren Sie mich nicht mit Frau Deutschkron, das würden meine rechtsradikalen Freunde nicht gerne sehen!“ Ich stand genau daneben. Dann sollte die Klasse Fragen zu meinem Buch stellen, aber dazu kam es gar nicht. Die Kinder stürzten sich sofort auf den Begriff Rechtsradikalismus. Das sei vollkommen in Ordnung, warum denn nicht? Was geschehe denn hier, was sei das für ein Staat? Ein Staat, der nichts für sie tue und in dem es nur Arbeitslose gäbe. Dann kam die tolle Zeit in der DDR und was in der Verfassung so Wunderschönes verankert war. Und was ich dann über Ausländer hörte; es gibt wirklich kein Klischee, das nicht vorkam: Sie vergewaltigen unsere Frauen, entjungfern unsere Mädchen usw. Die andere Enttäuschung war in West-Berlin, in einer sogenannten Elite-Schule in Steglitz. Die fragten, was sie das denn anginge. Rechtsradikal? Das sind doch nur die unteren Schichten. Im Übrigen ist das die Sache des Staates.“ Ich sagte: „Der Staat, dass seid ihr!“ Aber das waren die einzigen Ausfälle in über sechs Jahren.
Wie stabil ist die deutsche Demokratie?
Sehr viel stabiler als die von Weimar. Mir scheint die Demokratie schon sehr stark verankert, keine Frage. Allerdings gibt es manchmal Moment, da kommen mir Zweifel. Zum Beispiel im Fall von Stefan Heym. Heym ist nach Bonn gegangen, um die PDS zu vertreten. Wenn die PDS eine undemokratische Partei wäre, hätte man sie verboten. Dem ist nicht so. Da sie eine demokratische Partei ist, muss man sie auch dementsprechend behandeln. Und Heym, der Alterspräsident, ein Jude, ein Mann, der emigrieren musste, kehrt nach Deutschland zurück in die DDR, schreibt systemkritische Bücher, die im Westen Bestseller werden, wird als großer DDR-Kritiker gefeiert und dann, weil er die PDS vertritt – wozu ich ihm übrigens nicht geraten hätte -, hält er eine Rede, die nicht einmal angreifbar ist, und die CDU schafft es noch nicht einmal, dem Alterspräsidenten zu applaudieren. Da kommen mir Zweifel, ob sie die Demokratie begriffen haben.
Berlin, April 1995