Kilian Kleinschmidt – Flüchtlinge, Vertreibung, Migration

„Ein Flüchtlingscamp ist kein Almosenverteilungszentrum“

Auf der diesjährigen Berlinale gibt es viele Filme, die sich den Themen Flucht, Vertreibung, Migration widmen. Und auch jenseits der Leinwand gibt es verschiedene Veranstaltungen dazu. Die Sektion Talents zum Beispiel lud Experten ins Hebbel-Theater, um unter der Überschrift „Migratory Narratives“ (etwa „Erzählungen der Migration“) über Flüchtlingscamps zu sprechen und Konzepte für die Zukunft zu entwerfen. Einer der geladenen Experten war Kilian Kleinschmidt. Er arbeitete 25 Jahre als Flüchtlingshelfer und –koordinator für die Vereinten Nationen. Im Zaatari (Nord-Jordanien) leitete er bis Ende 2014 das zweitgrößte Flüchtlingscamp der Welt, in dem über 120.000 Menschen leben.

 

Bernd Sobolla, Herr Kleinschmidt, halb Europa stöhnt unter dem Ansturm von inzwischen rund 1,5 Millionen Flüchtlingen. Sie aber scheinen sehr zufrieden darüber zu sein. Warum?

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Kilian Kleinschmidt sprach bei den Talents über seine Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit.

Kilian Kleinschmidt: Ihr Eindruck ist absolut richtig. Wir müssen diesen Menschen danken, dass Sie uns darauf bringen, wieder über uns selber und unsere Gesellschaft nachzudenken. Über das, was funktioniert und was nicht funktioniert. Mit den Flüchtlingen kommt ein großes Kapital an Denken und Politisierung in unserer Gesellschaft. Im Augenblick, das gebe ich zu, natürlich auch im negativen Sinne. Die Politisierung, die wir zurzeit erleben, ist natürlich nicht schön. Da wird ein sehr gefährliches Gedankengut hochgespült. Viele glaubten, dass das eigentlich überwunden sei. Aber die Reaktionen zeigen uns, dass es noch da ist. Und das heißt, dass wir damit auch umgehen müssen. Vielleicht auch, dass wir nicht genügend dafür ausgerüstet sind, mit größeren Menschenströmen umzugehen. Auch tun sich viele schwer, mit Menschen, die anders sind als wir, die aus anderen Kultur- und Religionsräumen kommen. Das muss uns zu denken geben.

Glauben Sie, dass ein Filmfestival wie die Berlinale das richtige Forum ist, um über die Flüchtlingssituation zu diskutieren?

Ich glaube, dass jedes Forum wichtig ist. Ob das nun bei den Wirtschaftsverbänden ist oder bei Institutionen der Zivilgesellschaft. Wichtig ist: Es kommen Menschen zusammen, die Geschichten erzählen, die einen wichtigen Einfluss darauf haben, wie wir funktionieren, d.h. die Medien im erweiterten Sinne. In diesem Sinne, finde ich, dass die Geschichtenerzähler ein ganz wichtiger Teil von uns sind. Egal ob es sich um Dokumentarfilmer handelt, das ist das klassische Genre, das irgendwie mit Flüchtlingen in Verbindung gebracht wird. Oder ob es ganz andere Ansätze gibt, die Flüchtlingssituation zu verarbeiten. Das Narrative verändert unser Denken. Da können die Leute, die hier auf der Berlinale zusammenkommen, mitwirken.

Kann der Einsatz von Virtual Reality  wirklich dazu beitragen, die Probleme besser zu verstehen oder gar zu lösen? Mir scheint der Optimismus der Technologie-Fans unverhältnismäßig.

Ich glaube schon. Es geht um ein interdisziplinäres Zusammenspielen von verschiedenen Kapazitäten und darum, die Probleme möglichst vielseitig zu visualisieren. Ich habe heute zum Beispiel einen kleinen Film gezeigt, um das Lager im Norden von Jordanien zu zeigen, für das ich verantwortlich war. Es kann sich ja kaum ein Mensch richtig vorstellen, wie sich das Leben da abspielt. Jeder denkt: „Das ist irgend so ein Almosenverteilungszentrum!“ Und dann sehen wir auf einmal Menschen, die ganz anders funktionieren. Die eine richtige Stadt aufbauen, mit einer Hauptstraße, die Champs-Élyées genannt wird, auf der viele Leute ihre Geschäfte eröffnen: Friseure und Handwerksläden, Hochzeitskleiderverleih und Elektroteile. Wenn man ein Flüchtlingslager nicht nur als logistische Aufgabe sieht, sondern den Menschen die Möglichkeit gibt, sicher selber ihre Dinge herzustellen, entwickelt sich eine ungewöhnliche Eigendynamik.

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Will mit seiner neu gegründeten Organisation „Switxboard“ kleinere Verwaltungseinheiten schaffen: Kilian Kleinschmidt (lks.). Neben ihm steht der Organisator der Talents-Veranstaltung, Juan DiazB.

Die Erwartungshaltung gegenüber Europa bzw. Deutschland ist groß, so groß, dass sie sich kaum erfüllen lässt. Statt schnell bewilligtem Asylantrag, Arbeit und Wohnung, beginnt das große Warten in Turnhallen.

Am Anfang des Kriegs sind die Syrer zunächst in der Region geblieben, im Libanon oder Jordanien etwa. Denn sie hofften, dass Assad schnell verschwinden würde. Als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, marschierten die Menschen irgendwann in Richtung Europa. Angela Merkel hat das vielleicht durch ihre Offenheit unterstützt, aber die Schlepper zeichnen ein Bild von Europa, das im Vergleich zur Realität vor Ort wie ein Paradies wirkt. Dann gibt es immer einige Beispiele von erfolgreichen Flüchtlingen. Und daran klammern sich alle anderen dann, besonders wenn sie in einer verzweifelten Lage sind.

Wir sehen momentan vor allem die Probleme der Flüchlingsflut. Aber es gibt Migrationsforscher, die sagen, in zehn Jahren werde man Angela Merkel dankbar sein, dass sie die Grenzen geöffnet hat.

Das kann gut sein. Es ist aber normal, dass die meisten nur auf die aktuellen Probleme schauen. Tatsache ist: In Deutschland gibt es rund 600.000 freie Arbeits- und Lehrstellen. Wenn eine Million Menschen kommen, werden neue Jobs geschaffen. Zudem müssen rund 300.000 Wohnungen jährlich gebaut werden. Die Bauindustrie boomt. Und Ähnliches gilt auch für andere Wirtschaftszweige. Natürlich sind nicht alle Flüchtlinge hochgebildet. Aber als Anfang des 20. Jahrhunderts viele Europäer in die USA emigrierten, waren das ja nicht nur großartige Facharbeiter. Die wirklich Armen schaffen es ohnehin nicht nach Europa. Deshalb bräuchten wir eigentlich gezielte Umsiedelung von wirklich Schutzbedürftigen.

Was würden Sie den Ländern wünschen, die Flüchtlinge aufnehmen?

Zum Beispiel die Eigendynamik, eine Vision zu entwickeln, wie die Zukunft in diesem Zusammenhang aussehen könnte. Der Flüchtling der Zukunft, und wir reden hier über den Flüchtling von 2030 als Vision, wird unter Umständen, wenn er kommt, einchecken wie in einem modernen Unternehmen: Er wird eine virtuelle Geldbörse bekommen, wird sich einen Lebensraum irgendwo gestalten können als Teil eines Wohnprojektes, das sich gemeinschaftlich organisiert und auch Wirtschaftlichkeit erlaubt und fordert. Das sind Dinge, die sich im Moment nur wenige Leute vorstellen können. Wenn ich mir die meisten Entscheidungsträger ansehe, muss ich sagen – ich habe in vielen Ländern gearbeitet – dass sie nicht genug Vorstellungskraft haben, warum das gut sein könnte, dass ein Flüchtling nicht mehr bei einer Lebensmittelverteilung anstehen muss, sondern dass man einen Supermarkt einrichtet, wo er einkaufen kann. Mit der Technologie von heute, mit einer Smartcard, wo Geldwerte gespeichert sind.

Sie haben einen Kurzfilm, eine virtuelle Realität, aus Saudi Arabien gezeigt. Er zeigt ein neues Dorf, das in einer Wüstenlandschaft gebaut wird. War das noch eine Vision oder wurde das bereits konkret umgesetzt?

Das ist Teil der Umsetzung, das heißt, dort wurde zunächst etwas visualisiert, nämlich diese Siedlung, und diese Visualisierung hat Entscheidungsträgern geholfen, bestimmte Genehmigungen zu erteilen. Das erlebt man immer wieder, dass so etwas helfen kann. Und in diesem Fall führte die Umsetzung zu einer Verbesserung von Lebensbedingungen irgendwo in Saudi Arabien.

Sie waren bis Ende 2014 für das Flüchtlingscamp in Nord-Jordanien verantwortlich. Warum haben Sie aufgehört?

Ich glaubte, meine Aufgabe dort erfüllt zu haben. Ich sollte Ruhe in das Camp bringen. Es war ein sehr gefährliches Lager, mit sehr vielen Aufständen. Und wir haben es dann innerhalb eines Jahres geschafft, bis Ende 2013, dass da relative Ruhe herrschte. Und dann haben wir neue Modelle entwickelt. Und ich habe gemerkt, dass es wichtig ist, auch außerhalb der großen Strukturen zu arbeiten. Das ist jetzt ein Thema, das mich sehr interessiert. Dass man im 21. Jahrhundert zum Beispiel nicht mehr große zentralisierte Hilfsorganisationen braucht. Für Vernetzung oder das Zusammenbringen von Ressourcen, dort, wo sie gebraucht werden, braucht man nicht unbedingt riesige Verwaltungsapparate. Im Grunde geht es darum, eine virtuelle, aber auch output-orientierte Form der Hilfsstruktur und Zusammenarbeit aufzubauen. Das ist eines der Ziele, das ich mir gesetzt habe. Und dazu habe ich eine Organisation gegründet, ein Projekt, das Switxboard heißt. Wir von Switxboard versuchen, genau diese Kapazitäten der Welt miteinander zu verbinden, z. B. im Nord-Irak ist, wo wir jetzt anfangen zu arbeiten.