„Hartz IV ist Armut per Gesetz!“
Nach Ermittlungen des Bundessozialministeriums konzentriert sich in Deutschland das Vermögen zunehmend in den Händen der Reichen. 2013 verfügten zehn Prozent der Haushalte über fast 52 Prozent des gesamten Vermögens – Tendenz steigend. 1998 waren es „nur“ 45 Prozent. Die Linke-Fraktion im Bundestag verlangt angesichts der Entwicklung ein Umsteuern. Sabine Zimmermann ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke und Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Sie fordert die Einführung einer Millionärssteuer.
Bernd Sobolla: Frau Zimmermann, wir erleben, dass immer größere Teile der Bevölkerung in die Armut abdriften. Der Wohlstand, den die Statistiken belegen, nützt ihnen nichts. Welche entscheidenden Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht?
Sabine Zimmermann: Das ist natürlich beschämend, wenn man hört, dass nur ganz wenige Menschen in Deutschland ein großes Vermögen haben und ein Großteil der Menschen eben überhaupt nichts besitzt. Ich finde das beschämend für ein so reiches Land. Ich führe das unter anderem. zurück auf die Agenda 2010, die 2003 bzw. 2005 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführt wurde. Dabei wollte er „etwas für den Niedriglohnsektor tun“. Das ist ihm auch gelungen, denn Hartz IV ist Armut per Gesetz. Es gibt viele Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, müssen zum Beispiel Leiharbeit übernehmen. Dort wissen wir genau, dass sie bis zu 50 Prozent weniger bekommen als die Stammbelegschaften. Wobei auch bei Werksverträgen die Löhne gedrückt werden. Ganz zu schweigen von den Minijobs. Insgesamt arbeiten 30 Prozent der Menschen im Niedriglohnsektor. Das bedeutet, dass sie ihre Familien nicht ernähren können und zusätzliche Sozialleistungen brauchen. Mit der Agenda 2010 ist der Sozialstaat so geschliffen worden, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht.

Sabine Zimmermann, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke“, forderte die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Photo: Pressefoto – Die Linke
Sie fordern eine Millionärssteuer, sagen aber gleichzeitig, dass die erste Millionen steuerfrei bleiben soll. Das klingt gar nicht so revolutionär. Warum sind Sie so zurückhaltend?
Die sogenannte Millionärs- oder Vermögenssteuer gab es ja eigentlich schon mal. 1995 ist sie aber vom Bundesverfassungsgericht kassiert worden, in dem Sinne, dass man Ländereien und Geld nicht gleichsetzen kann. Deswegen war damals die Bundesregierung gefordert, das Gesetz zu korrigieren. Das hat sie aber nie gemacht. Sie hat einfach die Vermögenssteuer weggelassen. Das sind Milliarden-Summen, die da verloren gegangen sind. Wir fordern die Millionärssteuer, wobei die erste Millionen steuerfrei sein soll. Aber ab der zweiten Million – also jeder, der über eine Million verdient – soll fünf Prozent Vermögenssteuer zahlen. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Hier ist es wichtig, dass sich die Vermögenden am gesamtgesellschaftlichen Eigentum bzw. an der gesamten Gesellschaft beteiligen. Der Bund könnte über diese Regelung 81 Milliarden Euro einnehmen. Das Geld könnten wir für Schulen, für den Ausbau von Straßen, aber auch für das Gesundheitswesen gebrauchen. Mit der Agenda 2010 sind die Vermögenden bevorteilt worden und diejenigen, die wenig haben, benachteiligt. Stattdessen werden den Armen immer mehr Lasten aufgebürdet, von der Mehrwertsteuer bis hin zu den Krankenkassenbeiträgen. Da könnte man viele Beispiele nennen.
Kritiker könnten einer Millionärssteuer gegenüber oder Vermögenssteuer, wie immer man sie bezeichnen möchte, einwenden, dass die Reichen noch mehr dazu neigen würden, ihr Vermögen ins Ausland zu transferieren?
Ganz so einfach geht das nicht. Man muss seine Steuern trotzdem zahlen. Zudem könnte man die USA diesbezüglich als positives Beispiel nennen (und das könnte man auch bei uns sehr gut einführen): Die US-Amerikaner müssen ihre Steuern, egal wo sich die Leute auf der Welt befinden, in den USA zahlen. Das könnte man hier in Deutschland auch einführen. Und das wäre wichtig. Denn welcher Zahnarzt zum Beispiel würde hier weggehen, weil er woanders Steuern spart. Er ist ja auf die Menschen hier angewiesen. Deswegen zieht diese Argumentation nicht.
Sollte eine Millionärssteuer nicht ebenfalls einer Progression unterliegen? Wir haben ja inzwischen in Deutschland schon eine ganze Menge Milliardäre.
Ich glaube auch, dass das große Problem nicht die Millionäre sind, sondern jetzt sogar schon die Milliardäre. Da gebe ich ihnen völlig recht. Ich finde, wir sollten die Millionärssteuer erst einmal richtig einführen, dort sozusagen einen Anfang machen. Wie man das System dann weiter ausgestaltet, können wir nachher diskutieren, wenn wir erste Ergebnisse sehen. Die grundsätzliche Einführung ist für uns erst einmal das Wichtigste.
Leider ist Deutschland nicht das einzige Land, das die größer werdende Schere von Arm und Reich zu beklagen hat. Handelt es sich um einen grundsätzlichen Systemfehler im Kapitalismus? Denn vor 20 oder 30 Jahren gab es weniger Reiche und das Vermögen war gerechter verteilt.
Vor 20 oder 30 Jahren war es so, dass die Arbeitnehmer auch mehr vom Kuchen abbekommen haben. Jetzt ist es aber so, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinander geht, weil die Löhne in den letzten Jahren gesunken sind durch die Einführung des Niedriglohnsektors. Ich habe einen Bekannten in meinem Wahlkreis, der ist Leiharbeitnehmer bei einem großen Automobilzulieferer und verdient bei drei Schichten 700 Euro netto; und er ist allein erziehender Vater und muss zusätzlich noch zwei weitere Jobs machen. Er geht Regale einräumen, und er macht noch Security bei einem Fußballclub. Der möchte seiner Tochter aber auch etwas bieten. Der Fehler ist, dass das Soziale völlig auf der Strecke geblieben ist. Die Zeche der Agenda 2010 zahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen und die Rentnerinnen und Rentner mit vielen Nullrunden, die sie in den letzten Jahren erlebten (Ausnahme 2016). Und natürlich auch die Erwerbslosen, die mit einem Regelsatz leben müssen, der unterhalb der Armutsgrenze liegt
Sehen Sie außer der Millionärssteuer weitere Ansätze, dem Ungleichgewicht entgegen zu wirken?
Es muss eine Regelung geben, die nicht nur in Deutschland gilt. Das ist wichtig. Es muss europaweit, im Idealfall weltweit geregelt sein. Darüber hinaus kämpfen wir dafür, dass viele Sachen wieder rekommunalisiert werden. Denn Wasser wird immer teurer, Strom wird immer teurer. Das sind Dinge, die zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören sollten. Deshalb ist es wichtig, dass Wasser und Strom auch in der öffentlichen Hand bleiben und auch bezahlbar bleiben. Viele Menschen können sich keine Heizung mehr leisten. Die sitzen in einem Zimmer ihrer Dreiraumwohnung, drehen die Heizung weit runter und ziehen sich lieber drei Jacken an. So kann es nicht weitergehen. Die Armut kann man weder wegdiskutieren noch verstecken. Das ist eines der wichtigsten Themen, da müssen wir ran.