Schauspielhaus Hamburg: Dienstag, 28. Februar
Wie klingt das Leben aus?
Der Autor und Performance-Künstler Stefan Weiller inszeniert „Letzte Liebeslieder“ im Schauspielhaus Hamburg
Über Jahre sammelte der Autor Stefan Weiller in Hospizen Geschichten. Die Menschen erzählen ihm von ihrem Leben, dem bevorstehenden Tod und immer auch von der Musik ihres Lebens. Daraus ist eine Performance entstanden, mit der Weiller und Schauspieler seit 2013 in Kirchen und Hospizen auftreten. Wobei kein Aufritt dem anderen gleicht. Vor drei Wochen ist das dazu gehörige Buch „Letzte Liebeslieder“ erschienen. Und am 28. Februar tritt Weillers Ensemble erstmals auf der großen Bühne auf: Im Hamburger Schauspielhaus werden Christoph Maria Herbst, Maria Schrader, Tim Fischer und der Harvestuder Kammerchor im Rahmen eines Benefiz-Konzerts auftreten. Wobei sich die Performance vor allem auf Lieder und Geschichten stützt, die Weiller im Hamburger Hospiz „Leuchtfeuer“ gesammelt hat. Zwei Stunden, die sich der Liebe, dem Leben und dem Abschied widmen. Entgegen der allgemeinen Erwartungen ist das Leben im Hospiz nicht nur von Angst, Trauer und Verzweiflung dominiert, sondern vielmehr von Lebensfreude, Zuversicht und sogar Humor.
„Dass das Projekt immer weiter geht, hat ihr wahnsinnig gut gefallen.“
Bernd Sobolla: Stefan Weiller, die Performance „Letzte Lieder“ und das Buch mit dem selben Titel kann man wohl nicht getrennt sehen. Erzählen Sie uns bitte von der Entstehungsgeschichte. Eine solche Performance entsteht ja nicht zufällig.

Stefan Weiller ist am 28. Februar zusammen mit Maria Schrader, Christoph Maria Herbst u.a. im Schauspielhaus Hamburg zu Gast. (Foto: Bernd Sobolla)
Stefan Weiller: Die Idee entstand vor ungefähr fünf, sechs Jahre. Ich war als Journalist in einem Hospiz eingeladen und durfte dort eine Frau interviewen, die gerade erst eingezogen war. Ich hatte vor der Begegnung tatsächlich ein bisschen Angst und dachte: „Das wird alles sehr belastend. Wie kann ich mit der Frau überhaupt unbefangen sprechen?“ Dann wurde ich zu ihrem Zimmer geführt, die Tür ging auf, und es erklang „Immer wieder sonntags“ von Cindy und Bert. Und das hat für mich alle Schatten weggerissen, für mich fühlte sich plötzlich alles nach Sonne an. Und ich dachte: „Okay, Schlager im Hospiz. Gute Laune von Cindy und Bert!“ Dann konnte ich mit der Frau ungefähr zwei Stunden reden. Das Gespräch war heiter, tiefgründig und leichtsinnig. Alles war dabei. Und immer wieder erzählte sie auch von musikalischen Dingen, die mit ihrem Leben verwoben waren. Wann sie welcher Musik begegnete, die sie auch jetzt ins Hospiz mitgenommen hat. Nach dem Gespräch bin ich nach Hause gegangen und dachte: „Soll ich damit jetzt einen Zeitungsartikel von 100 Zeilen schreiben? Das kann es nicht gewesen sein. Das ist etwas Größeres!“ So entstand die Idee zur Konzertreihe „Letzte Lieder“. Ich habe die Reihe dann Hospizen mit dem Anspruch vorgeschlagen, die Musik live zu spielen. Außerdem wollte ich weitere Menschen treffen, die bereit sind, mir zu erzählen: Welche Musik begleitet sie jetzt gerade? Wie klingt es im Hospiz? Wie klingt das Leben aus? Seither war ich mit über 120 Menschen im Gespräch, in über 20 Hospizen bundesweit. Und die Gespräche laufen übrigens weiter. Der Abend im Hamburger Schauspielhaus wird nur ein kleiner Ausschnitt all dessen sein. Wir haben eine Band dabei und ein Orchester. Ich habe vor Kurzem in Lingen (Emsland) ein Gespräch geführt. Und die Frau dort hat mit strahlenden Augen gesagt: „Mich tröstet Michael Hirte mit seinem „Ave Maria“ auf der Mundharmonika sehr. Ich habe es zur Hochzeit meiner Enkelin gehört, ich höre es jetzt in meinem Sterben. Es berührt mich sehr, es ist mein Lied!“ Und der Gedanke, dass das Projekt immer weiter geht, hat ihr wahnsinnig gut gefallen. Vier Tage später ist sie verstorben und ließ mir ausrichten, dass die CD auf dem Weg zu mir sei. Sie wollte sie mir gerne schenke. Das Projekt werden wir jetzt am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als „Letzte Liebeslieder“ aufführen. Mit Maria Schrader, Lina Beckmann und Christoph Maria Herbst – ganz große Namen, die diese Geschichten vom Lebensende umsetzten.
„Da wird mit Gott gehadert und Gott gedankt“
Ist das jetzt zum ersten Mal auf der ganz großen Bühne?
Es ist zum ersten und vielleicht einzigen Mal auf der ganz großen Bühne, weil das Projekt eigentlich in Kirchen zu Gast ist. Ich finde, es passt sehr gut in Kirchen: In einer Kirche wird getauft, geheiratet und beerdigt. Da wird mit Gott gehadert und Gott gedankt. Und diese Fülle an Leben zeichnet sich eben auch im Projekt „Letzte Liebeslieder“ ab. Aber trotzdem passt es auch in ein Theater. Und es bietet uns technisch noch mal ganz andere Möglichkeiten als Kirchen mit ihrer speziellen Akustik.
„Die Party war so schillernd wie die Dame.“
Die Texte, die geschrieben sind, stammen also nicht von Ihnen persönlich, sondern aus den Interviews, die Sie geführt haben?

Das Buch „Letzte Lieder“ von Stefan Weiller ist Anfang Februar im edel-Verlag erschienen. Es kostet 19,95 Euro.
Die Interviews werden nicht aufgezeichnet. Ich schreibe auch nicht mit. Sondern ich zeichne die Gespräche aus dem Gedächtnis nach. Ich arbeite noch immer journalistisch, das heißt, ich bin inhaltlich treu an dem, was mir die Leute erzählen. Ich hinterfrage nicht: „Bindet mir da jemand einen Bären auf und inszeniert eine große Lebensgeschichte, die vielleicht der Wirklichkeit gar nicht standhält?“ Ich habe eine alte Dame erlebt, die mir in fester Überzeugung erzählt hat, dass Andy Warhol für sie eine große Party gegeben habe. Und diese Party sei so schillernd gewesen wie diese Dame auch. Ich habe nicht gefragt, ob das stimmte. Diese Frau lebte irgendwo auf dem norddeutschen Plattenland. Es war ihre Entscheidung. Sie sagte: „Das bin ich an meinem Lebensende. Und das ist meine Musik dazu!“ Großartig, wenn so was passiert. Niemand muss seinen Namen nennen. Ich fände es schwierig, Interviews mit Mikrophon zu führen, weil ich glaube, dass jeder, der darin ungeübt ist, dann anders spricht. Ich möchte ganz nah dran sein. Ich möchte keinen Stift führen, kein Mikro und keine Kamera aufstellen. Wahrscheinlich würden dann viele Gespräche gar nicht zustande kommen. Es gibt auch Leute, die sagen mir: „Bitte, erzählen sie nicht, dass ich hier mitgemacht habe!“ Eine Frau hat mir vom Lied ihrer Scheidung erzählt. Sie hatte eine miserable Ehe und ließ sich in den 70er Jahren scheiden, obwohl sie eine Tochter hatte und die Gefahr bestand, dass ihr dieses Kind weggenommen würde. Wegen „böswilligen Verlassens“ konnte man das Sorgerecht für das Kind verlieren. Warum ließ sie sich scheiden? Sie war unglücklich. Und sie hat es gewagt. Das Kind wurde ihr dann nicht weggenommen. Ihr Mann erschien nicht einmal zum Sorgerechtstermin vor Gericht. Und im Sommer nach der Scheidung saß sie in Verona – das hatte sie sich immer gewünscht – und hörte Verdis Nabucco auf der ganz großen Bühne mit dem Gefangenenchor. Und sie hat gesagt: „Mir flossen die Tränen. Wenn dieser Chor anhebt und von der Heimat singt, von der Freiheit singt.“ Sie hat es erzählt mit dem Anspruch „Freiheit ist das Wichtigste, im Leben und im Sterben! Und ich möchte aber auch meinen Ex-Mann nicht in Misskredit bringen. Der soll ja weiterleben! Das war ja nicht nur ein blöder Kerl, sondern wir haben einfach nicht zusammengepasst. Die Zeit war falsch für uns.“ Darum darf ihr Name nicht genannt werden und auch nicht der Wohnort. Das Versprechen halte ich ein.
Selbst komponiertes Ständchen auf dem Handy
Die Musik wird in den Kirchen oder im Schauspielhaus live gespielt. Haben Sie die Musik selber arrangiert?
Die Musik kommt ja tatsächlich von den Menschen im Hospiz. Das sind deren Wünsche, das ist deren Soundtrack des Sterbens. Das ist nicht der Soundtrack des Lebens, den wir hier hören, sondern der Tod. Das Sterben ist gegenwärtig, die letzte Lebensphase bestimmend für dieses Gespräch. Mancher lädt mich ein, will mit mir über Musik reden. Und dann kommen wir auf ganz andere Themen. Und ich merke: „Es geht gar nicht um Musik. Es geht um Nähe, es geht um Austausch und um die Frage, die dieser Mensch vielleicht mit mir reflektiert: „War mein Leben sinnvoll?““ Ich glaube, das ist das ganz Wesentliche für Menschen. Und die letzten Lieder sind vielleicht eine Möglichkeit, ein soziales oder kulturelles Überleben zu ermöglichen. Da, wo vielleicht ein Glaube an ein Weiterleben in einem Jenseits fehlt, denkt mancher: „Mein Lied ist in diesem Projekt, und ich bin spürbar.“ Und ich glaube, das Publikum spürt es auch. Die Musik wird arrangiert. Das ist ein großer aufwendiger Prozess, weil wir eben alles live machen. Ein Mann hat mir einmal ein selbstkomponiertes Ständchen aufs Handy gesungen. Er konnte keine Note schreiben. Aber dieses Lied hat er seiner Familie immer mit großer Leidenschaft vorgesungen. Auch im Hospiz rollte er mit seinem Rollstuhl zu den Geburtstagskindern und brachte ihnen sein Ständchen. Bis zu seinem letzten Tag. Wir haben bei der Aufführung in Darmstadt dann erst seine Handy-Aufnahme eingespielt und dann ein großes Chorarrangement daraus geschrieben. Die ganze Kirche hat sein Lied gesungen. Das war wunderbar.
Ist das Buch eine Ergänzung zum Konzert oder eigentlich die Grundlage dafür?
Das Buch ist die Grundlage. Ich wusste nicht, ob es gelingen würde, die Künstlerinnen und Künstler zu finden, die für das Projekt notwendig sind. Es gibt nämlich eine große Hürde: Wahnsinnig wenig Geld! Wir müssen mit sehr wenig Geld, sehr viel machen. Es gibt keinen Förderer, der dahinter steht. Die meisten machen es ehrenamtlich. Und die anderen, die mehrfach dabei sind, sagen: „Ich kann nicht zehnmal im Jahr ein Wochenende ehrenamtlich spielen, wenn ich als freier Sänger überleben muss.“ Die kriegen dann ein Aufwandshonorar, das aber wirklich nicht marktüblich ist. Das ist letztlich eine große Hürde. Am Anfang war mein Entschluss: „Ich sammle Geschichten. Das ist meine Freude!“ Dass die Konzertreihe möglich wurde, finde ich wunderbar. Es gab bisher vierzehn Aufführungen. Ich gehe auch immer gerne aufs Land. Menschen sterben ja nicht alle nur in der Großstadt. In diesem Jahr werden wir in Hamburg, in Mühlacker bei Pforzheim sein. Dann geht es nach Lingen im Emsland. Und schließlich kommen die großen Städte: Köln, München, Berlin.
„Ein Mensch, der in vier Tagen stirbt, strahlt mich an“
Wann sind Sie zum ersten Mal aufgetreten damit?
2013 in Frankfurt am Main war die Erstaufführung. Wobei jedes Konzert anders ist. Denn ich sammle für jede Aufführung neue Lieder und Geschichten. Das heißt, jede Aufführung hat einen starken regionalen Bezug. In Berlin z.B. war es so, dass eine Dame das Zille-Lied genannt hat. Das singt der Berliner. Und in Hamburg: „An der Eck steiht en Jung mit´n Tüdelband“. Das ist Hamburger Identität. Und die bildet sich auch im Hospiz ab. Fußball-Hymen, mein Gott! Es ist unfassbar, was mir hier alles vorgesungen wird. Das ist das Schöne. Diese Erfahrung mit dieser Frau, die erste Erfahrung, dass das Hospiz ein Lebensraum bleibt bis zur letzten Stunde, das erlebe ich immer wieder. Ein Mensch, der vier Tage später stirbt, sitzt mir im Bett gegenüber, strahlt mich bei unserer Begegnung an und singt mir vielleicht nicht mehr mit der allerlautesten Stimme, aber vielleicht so eine Gröl-Hymne aus dem Fußballstadion vor. Ich finde das wunderbar. Wenn wir so sterben können, dann ist das dieser Würdebegriff, den viele Menschen sich wünschen, der in dieser Phase gesucht wird. Man selber bleiben können. Und nicht, wenn man stirbt, die Persönlichkeit am Eingang einer Pflegeeinrichtung abgeben. Das ist ganz wichtig.
„Mit spitzen Fingern fasse ich Helene Fischer nur an, dachte ich…“
Gibt es noch etwas, worauf Sie hinsichtlich des Buches, das gerade erschienen ist, hinweisen möchten?
Das Buch besteht aus Episoden. Teilweise haben die Geschichten, wenn man sie vorliest, die Länge eines perfekten Popsongs. Die liegt so bei 3.30 Minuten. Dann ist die Geschichte zu Ende. Und mancher wird sich denken: „Das ist eine große Leerstelle. Ich habe zu wenige Informationen.“ Aber das ist gerade das, was ich erreichen möchte. Dass die Leser die Episoden vor der eigenen Erfahrung reflektieren: „Wie führe ich mein Leben? Was sind meine Gedanken, wenn ich ans Sterben denke? Wie gehe ich innerhalb meiner Familie mit diesem Thema um? Wie offen kann ich sein?“ Darum erzähle ich keine Geschichte zu Ende, sondern ich bilde ab, was mir passiert ist. Ich treffe Menschen. Ich treffe keine Sterbenden. Ich treffe lebende Sterbende, keine Toten. Das ist die Erfahrung, die sich, glaube ich, sehr gut über das Buch erschließt. Wenn man immer wieder diese Geschichten an sich heran lässt und fragend auf sich zukommen lässt. Das ist eine schöne Chance. Es gibt eine Spotify-Liste, da kann man all diese Songs kostenlos nachhören, die im Buch benannt wurden. Das ist eine wilde Mischung. Kein Radiosender würde das wagen, auch wenn es Formate gibt, die Pop und Klassik mischen. Aber dann kommen eben nicht Cindy und Bert. Schlager ist immer noch in der Tabuzone, so wie das Thema Sterben. Vor zwei, drei Jahren habe ich noch gedacht: „Uh, Helen Fischer! Mit spitzen Fingern fasse ich diese Frau nur an. Das hat alles keine Qualität.“ Sie ist eine große Künstlerin, das habe ich mittlerweile verstanden. Wenn es einer Helene Fischer gelingt, mit „Atemlos durch die Nacht“, Menschen, die schwerstkrank sind, zum Lachen zu bringen und zum Mitsummen, und sie sich noch mal gesund fühlen, wenn das möglich ist… Ich bin ein großer Schlagerfan geworden. Und Operette ist ohnehin das Größte. Meine Eltern haben viele Operettenplatten gehabt, und ich dachte: „Ich brauche einen Therapeuten, um das zu verarbeiten!“ Jahrelang habe ich die Finger davon gelassen. Und jetzt hole ich die Platten meiner Eltern aus dem Schrank – wunderbar.
Buch-Auszug:
„Ich habe gesoffen wie ein Loch. Jahrelang. Schon morgens Wodka mit Apfelsaft. Meine Absicht, die Sucht zu verheimlichen, war lächerlich. Wie alle Säufer habe ich es probiert. Aber jeder hat gerochen, was ich mir in den Hals gekippt habe. Ist ihnen meine Sprache zu direkt? Man kann über das Saufen nicht anders reden, da ist nichts Schönes dran… Angst habe ich keine. Kann vielleicht noch kommen. Aber nicht heute. Schmerzen habe ich auch kein. Nicht heute. … Das sind meine letzten Tage im Hospiz: Vorgestern Nacht war mir zum Tanzen zumute. Im Radio lief ein Lied aus der Jugendzeit – Lady in Black, Uriah Heep. Ich habe mich im Takt der Musik bewegt und mich keine Sekunde lang gefragt, ob mich wohl jemand sehen und beurteilen könnte. Ein schöner Moment“.
Interview: Berlin, Februar 2017