Elke Sasse und Hamber Al Issa – #MyEscape / Meine Flucht

„Viele Syrer wollen von den Deutschen lernen, wie man ein Land wieder aufbauen kann“

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Hunderttausende Menschen fliehen nach Deutschland. Die Zahlen und die Dramatik der einzelnen Schicksale sind ebenso außergewöhnlich wie die Tatsache, dass viele Fluchtgeschichten auf (Handy-)Video dokumentiert wurden.  Gleichzeitig transportieren die Flüchtlingen damit Erinnerungen an ihre Heimat und dokumentieren ihre Fluchtstationen. Der vom WDR, der Deutschen Welle und Berlin Producers gemeinsam produzierte Dokumentarfilm „#MyEscape – Meine Flucht“ hat solche Fluchtgeschichten gesammelt: Die Videos der Flüchtlinge erzählen von ihrem Abschied, den Etappen der Flucht und der Ankunft in Deutschland. Ein Gespräch mit Hamber Al Issa (er ist Flüchtling, kurdischer Arzt aus Syrien und Filmprotagonist) sowie der Regisseurin Elke Sasse.

WDR: 10. Februar, 22.55 Uhr

WDR Planet Schule: 11. und 18. März, jeweils 7.20 Uhr

DW: in zwei Teilen am 13. Und 20. Februar auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Spanisch

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Hamber Al Issa ist im letzten Jahr aus Syrien nach Deutschland geflohen und möchte in Berlin als Arzt arbeiten.

Bernd Sobolla: Hamber Al Issa, Sie sind im letzten Jahr aus Syrien nach Deutschland geflohen. Welche Vorbereitungen haben Sie vor ihrer Flucht getroffen?

Hamber Al Issa: Ich suchte meine Dokumente zusammen und fuhr von Damaskus nach Qamischli, meiner Heimatstadt. Die liegt nahe der türkischen Grenze. Es war sehr schwierig, die Grenze zwischen Syrien und der Türkei zu überwinden.

 

Sind Sie allein geflohen oder in einer Gruppe?

Zunächst war ich alleine. Ich verabschiedete mich nur von meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Bruder. Dann überquerte ich die Grenze zur Türkei mit der Hilfe von Schleppern.

Was erwarten Ihre Eltern von Ihnen?

Sie sind glücklich, dass ich in Deutschland bin. Sie wissen, dass ich bei einer netten Familie lebe und sagen: „Du bist jetzt weit weg von uns, aber Du bist in Sicherheit.“ Natürlich möchte ich ihnen gerne helfen. Aber meine Eltern wollen nicht nach Deutschland kommen, denn sie sind 70 bzw. 75 Jahre alt. Ich möchte sie möglichst bald wiedersehen. Wenn ich einen Pass bekomme, reise ich nach Kurdistan (in die Nähe der syrischen Grenze), so dass sie dorthin kommen können.

Welche Vorstellung hatten Sie von Deutschland, bevor Sie hier her kamen?

Ich kannte Deutschland bzw. konnte mich über das Land in Syrien informieren. Die Situation ist in Deutschland besser als in anderen Ländern. Ich kenne die deutsche Kultur, weiß, was hier im Zweiten Weltkrieg passierte und wie die Nazis durch Aufmärsche und Diktatur herrschten. Vor allem beeindruckt mich, wie die Deutschen ihr Land nach dem Krieg wieder aufbauten. Jetzt ist es ein großes Land mit einer starken Wirtschaft.

 Sie hätten auch nach Schweden, Belgien oder Österreich gehen können. Warum haben Sie sich für Deutschland entschieden?

Für Ärzte ist es einfacher hier. Man kann sich als Arzt auch besser spezialisieren. Das ist einfacher als in Schweden. Ich will möglichst bald eine Arbeit aufnehmen, hier leben und Freunde finden. Ich liebe Berlin. Berlin ist für mich die Stadt der Hoffnung: Ich habe hier viele ehemals kaputte Häuser gesehen – z.B. am Kurfürstendamm -, die wieder aufgebaut wurden. Die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche war komplett zerstört. Aber direkt neben der Kirche spielt sich das pralle Leben ab. Viele Syrer wollen das von den Deutschen lernen. Sie wollen wissen, wie die Deutschen es schafften, dass sie wieder einander vertrauen und das Land aufbauen konnten. Wir Syrer vertrauen einander nicht mehr.

Sie sind erst einige Monate hier. Haben Sie dennoch das Gefühl, angekommen zu sein?

Nein, mein Schatten kam über die Grenzen, aber ich lebe noch immer in Syrien. Ich habe das Gefühl, ganz nah am Frieden zu sein, in einem Land, das die Menschenrechte respektiert. Aber gleichzeitig bin ich weit weg von meiner Familie, meiner Kindheit, meinen Erinnerungen. Das sind fast gegensätzliche Gefühle: Einerseits die Erleichterung, in einem sicheren Land zu sein. Aber andererseits weit entfernt von den Eltern, Freunden und Kollegen.

 

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Die Regisseurin Elke Sasse sieht sich bei #MyEscape – Meine Flucht“ als Gesamtleiterin.

 Elke Sasse, Sie bezeichnen sich im Zusammenhang mit „#MyEscape“ nicht als Regisseurin, sondern als Gesamtleiterin. Was meinen Sie damit?

Elke Sasse: Als Regisseurin überlege ich mir ein Thema, fahre dann mit einem Kameramann irgendwohin und mache mir Gedanken, was für Bilder man dazu filmt. Das war bei diesem Projekt anders. Die Bilder waren ja schon fertig. Wir haben die Bilder sozusagen nur zusammengestellt und montiert und haben versucht, eine Dramaturgie zu entwickeln. Aber gefilmt war alles schon alles. Die Kameraleute waren die Flüchtlinge.

Die Idee zu dem Film stammte von Stefan Pannen (Berlin-Producers) und wurde gemeinsam vom WDR und der Deutschen Welle in Auftrag gegeben. Wie lief die Filmproduktion ab?

Wir haben eine Facebook-Seite eingerichtet und darauf einen Aufruf in verschiedenen Sprachen verfasst. Diesen Aufruf haben wir dann gepostet und gleichzeitig über verschiedene Multiplikatoren in die Communities verbreitet: in die syrische Community, die afghanische und die eritreische. Die Flüchtlinge wurden gebeten, uns ihr Material zur Verfügung zu stellen. Und das haben sie dann auch getan. Sie haben ihre Filme auf Facebook hochgeladen, uns geschickt oder über Retransfer zugänglich gemacht. Da kamen ganz viele Clips zusammen: Bootsüberfahrten, das Laufen durch die Wüste, überfüllte Zügen und all die Situationen, die Flüchtlinge erleben. Wir haben dann ausgewählt und überlegt, wie man das Material montieren kann, so dass sich daraus eine Dramaturgie entwickelt. Es ist halt nicht sinnvoll hundert verschiedene Geschichten anzureißen. Wir haben uns auf ungefähr zehn Protagonisten konzentriert, deren Geschichten wir von Anfang bis Ende erzählen. Mit denen haben wir auch vertiefende Interviews geführt. Im Rahmen dieser Gespräche, haben sie ihr Bildmaterial erklärt und kommentiert.

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Hanne Kehrwald (auf dem Foto) von der Deutschen Welle betreute redaktionell mit Frauke Sandig das Filmprojekt.

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Jutta Krug ist beim WDR verantwortlich für die Redaktion Dokumentarfilm.

 

Wie viel Stunden Material mussten Sie sichten?

Das kann ich nicht sagen. Wir waren ein relativ großes Team und haben mit Flüchtlingen und Übersetzern zusammengesessen, haben uns deren Geschichten angehört und die Clips dazu gesehen.

 Haben Sie bestimmte Überraschungen erlebt? Dingen, von denen Sie keine Ahnung hatten?

Ja. Ich wusste natürlich, dass eine solche Flucht schwierig ist. Aber ich weiß noch genau, wie die Kollegen irgendwann zu mir kamen und sagten: „Du musst unbedingt kommen. So was hast Du noch nicht gesehen!“ Dann ging ich in den Sichtungsraum und sah dieses Video von Rahmad, wie er in dem leeren Tank eines Busses transportiert wird. Und ich habe gedacht: „Das darf nicht wahr sein!“ Das war vielleicht ein Quadratmeter, auf dem vier Leute hockten. Da sah man ein Loch mit einem Durchmesser von fünf Zentimetern, das im Boden war. Und unter diesem Loch sah man die Straße. Das fand ich unglaublich. Also die Vorstellung in so einem Tank zu hocken, der geschlossen ist, stundenlang durch die Gegend gefahren zu werden und nicht zu wissen, ob mich jemand wieder raus lässt und ob ich bis dahin Luft bekomme.

Mir schienen die Flucht aus Eritrea besonders schwierig und die Schlepperbanden besonders brutal?

Ja, das ist ganz bestimmt so. Natürlich kommt man auch auf der Balkanroute in schwierige Situationen. Auch da ist man Schleppern ausgeliefert. Und die sind nicht immer nett. Aber ich glaube, das ist kein Vergleich zu dem, was die Leute durchmachen, wenn sie auf der afrikanischen Route unterwegs sind. Alle haben uns von komplett skrupellosen Schleusern erzählt, die keine Hemmungen vor Übergriffen haben. Sie machen mit den Leuten alles, was Menschen so einfällt. Das war schon unglaublich.

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Rückblickend: Haben die Flüchtlinge die Strapazen der Flucht unterschätzt?

Jein. Es gibt eine Szene in dem Film von eritreischen Flüchtlingen. Da befinden sie sich auf einem Platz an der libyschen Grenze. Vorher waren sie in der Hand sudanesischer Schleusern, und nun warten sie auf diesem Platz, dass die libyschen Schleuser kommen. Diese wartenden Leute reflektieren über ihre Situation. Es gibt einen, der geht auf eine Handy-Kamera zu und sagt: „Liebe Brüder, macht nicht diesen Fehler, den wir gemacht haben! Das ist unsere Botschaft!“ Und dann kommt einer von hinten und sagt: „Wieso? Wir haben das doch vorher gewusst. Und wir haben uns trotzdem auf den Weg gemacht!“ Und ein anderer ergänzt: „Natürlich wussten wir, dass man im Meer sterben kann!“ Natürlich wissen die Flüchtlinge von Lampedusa. Aber wenn man keine Wahl hat, dann gibt es zumindest eine Chance, dass man überlebt. Und dann machen sie sich auf den Weg.