Ben Becker – „Ich, Judas“

Über Wachsmalstifte, Keith Richards und Klaus Kinski

Ben Becker geht mit „Ich, Judas“ auf Deutschlandtournee

21. Oktober 2016 bis November 2017

Als jugendlicher Punk sprang Ben Becker über Autodächer, warf Fensterscheiben ein, und die Polizei lieferte ihn schon mal Zuhause ab. Auch als Schauspieler liebt er auffällige Charaktere – vor allem Einzelgänger: den homosexuellen Peter in „Schlafes Bruder“, den mit den Deutschen abrechnenden Emanuel Goldfarb in „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ oder den nächtlichen Radiomoderator in „Frau2 sucht HappyEnd“. Aber es gibt auch eine ganz andere Seite von Ben Becker: Er tritt regelmäßig in Filmen und Stücken auf, die einen biblischen Bezug haben: In „Die Bibel – Sampson & Delila“, „Luther – Kampf mit dem Teufel“ oder „Die Bibel – Eine gesprochene Symphonie“. Und sein aktuelles Stück, „Ich, Judas – Einer unter Euch wird mich verraten“, entwickelt sich allmählich zum Dauerbrenner. Jetzt geht Ben Becker als Judas wieder auf Tournee.

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Judas (Ben Becker) vor seinem Herrn.

 

Bernd Sobolla: Ben Becker, der Text zu „Ich, Judas“ stammt von Walter Jens aus dem Jahr 1976. Walter Jens ist 2013 gestorben. Haben Sie noch mit ihm über den Text oder eine mögliche Aufführung gesprochen?

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Die Hörbuch ist 2015 bei Herder erschienen. Es wurden seither über 3.000 CDs verkauft. (Foto: Herder Verlag)

Ben Becker: Ich persönlich leider nicht. Aber ich habe ja zwei Väter, also Rolf Becker, meinen leiblichen, und Otto Sander, der leider schon drei Jahre tot ist. Die beiden kannten Walter Jens und durften sich mit ihm auseinandersetzen. Insofern habe ich mir ein bisschen berichten lassen. Auf jeden Fall habe ich mich mit großer Freude und großem Interesse diesem Text hingegeben. Das war ja ursprünglich eine Auftragsarbeit. Ich sollte den Text für ein CD-Hörbuch lesen, und das habe ich auch gemacht. Ich fand den Text so spannend, dass ich auf die Idee kam, ihn live vorzutragen und dann zu schauen, wie das Publikum reagiert. Das hat so gut funktioniert, dass ich jetzt wieder auf Tour gehe.  Es gibt übrigens auch Leute, die fragen: „Wann kommen Sie denn mit Ihrer Show?“ Dann antworte ich immer: „Das ist keine Show, sondern ein Vortrag oder eine Auseinandersetzung mit einem Text von einem wunderbaren großen Rhetoriker namens Walter Jens.“

Wären Sie auf Walter Jens´ Text gestoßen, wenn Sie vorher nicht auch „Die Bibel“ aufgeführt hätten?

Da müssen Sie die Leute fragen, die mich engagiert haben. Es werden einem ja immer Schemata angeheftet, ob im Guten oder im Schlechten. Das geht ziemlich schnell. Das ähnelt manchmal einer Verurteilung. Ich habe zuvor „Die Bibel“ gemacht, weil mich das interessiert hat, u.a. weil ich aus einem 68er Haushalt komme, in einer Künstlerfamilie groß geworden bin und weil die Bibel da nie eine große Rolle gespielt hat. Abgesehen von dem Moment, wo man mich im evangelischen Kindergarten, den ich einst besuchte, in den Schrank sperrte, weil ich meinen Rotkohl versalzen hatte und sagte: „Du kommst erst aus dem Schrank raus, wenn der Rotkohl aufgegessen ist!“ Daraufhin hat mich mein Vater aus dem Kindergarten genommen! Auf jeden Fall stand dieses Buch der Bücher immer in meiner Bibliothek.

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Vor Beginn der Performance: Jesu-Leichentuch liegt noch am Ort des Sterbens.

Und irgendwann habe ich mir gesagt: „Jetzt interessiert mich das!“ Damals existierte meine Band noch. Also bin ich zu denen hin gegangen und habe gesagt: „Jungs, ich habe ein neues Thema, ich will mich mit der Bibel auseinandersetzen!“ Die haben nur geglotzt: „Hast du eine Macke?“ Wir wussten natürlich nicht, was daraus werden würde, und sind dann 2008 in der Marienkirche in Berlin-Spandau zum ersten Mal aufgetreten. Dass wir später auf dem Katholikentag in Osnabrück vor 26.000 Leuten open-air auftreten würden, damit hatte niemand gerechnet. So tritt man aber auch nicht an. Sondern man tritt an, weil man neugierig auf etwas ist, weil man eventuell Neuland entdecken möchte. Ich fand es jedenfalls spannend, mich mit dem Buch der Bücher auseinanderzusetzen, weil ich das sehr existentiell finde und weil uns das etwas angeht. Das hat funktioniert. Und jetzt sagen viele: „Ja, der Becker, der macht immer religiöse Themen…“ Aber ich habe mich jetzt da nicht vernarrt. Ich bin ja kein Messias. Ich bin auch kein Priester. Aber ich finde da durchaus Texte oder Themen, die mich so sehr interessieren, dass ich sage, ich möchte das auf die Bühne bringen oder – im Fall von Judas – in einer Kirche lesen bzw. vorführen.

Ihre Soloperformance entwickelt sich zum Dauerbrenner. Stimmt es, dass Sie das Stück ursprünglich nur einmal aufführen wollten? Das steht nämlich im Pressetext.

Ne, so tritt man da nicht an. Ich male ja auch meine Bühnenbilder und Kostüme allein Zuhause. Da sitze ich dann wie ein kleiner Junge mit Wachsmalstiften auf dem Boden und male. Das habe ich immer schon gemacht, egal ob ich jetzt Döblins, „Berlin: Alexanderplatz“ mache, oder Jack Londons „Der Seewolf“. Da kommen immer die Wachsmalstifte raus. Für mich ist das eine Art Abenteuer, auch ein  Wagnis. Schon dadurch, dass ich mir für „Ich, Judas“ so einen riesigen Tisch habe bauen lassen. Da gehe ich nicht davon aus, dass ich nach einer Vorstellung alles wieder entsorge. Aber das Wort Dauerbrenner mag ich nicht. Es ist, glaube ich, ein schöner Vortrag, eine schöne Vorstellung geworden, die zum Nachdenken anregt, die tatsächlich das Interesse weckt. Und zwar nicht nur mein, sondern auch das Interesse meines Publikums. Da findet eine Art Austausch statt, und der ist immer wieder neu, sehr fundamentiert und ehrlich. Und ich finde es toll, dass dieser Text, den ich mir ausgesucht habe, einen solchen Anklang findet.

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Ben Becker gehört zu den besten Schauspielern Deutschlands. Mit seinen Bühnenprogrammen zieht er schon seit einigen Jahren ein großes Publikum in Theater und Kirchen.

 

Die Gottesdienste leeren sich, Ben Beckers Performance in der Kirche wird immer voller: Wie erklären Sie sich den Erfolg? Der Verlag verkauft von Walter Jens´ Buch übrigens nur etwa 120 Exemplare im Jahr. Der Text zieht also nicht die Massen an.

Jetzt bewege ich mich auf vermintem Gelände. Mir eilt ja ein sehr merkwürdiger Ruf voraus. Den hat u.a. die Bild-Zeitung erfunden. Aber die haben ja so manchen ans Kreuz genagelt und oft die Falschen. Ich liebe mein Publikum, und ich kann mittlerweile einschätzen, wer kommt. Die Leute wissen, dass bei mir eine ernste Auseinandersetzung mit Literatur stattfindet. Wie sie wissen, mache ich ja nicht so viel Fernsehen, weil ich keine Lust habe, mich bei RTL 2 vom 7ner BMW überfahren zu lassen. Oder zu schreien: „Halt! Stehen bleiben, oder ich schieße!“ Vielmehr führe ich gerne eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Literatur, mit Publikum, mit Texten, mit unserem hiesigen Dasein. Und das wissen die Leute. Natürlich kommen die auch wegen Ben Becker, weil sie sagen: „Wenn der auf der Bühne steht, das kann spannend sein.“ Ich denke aber auch, dass die Leute sich sagen: „Wenn der sich einen Text vornimmt, hat das einen Grund, einen ernsthaften Hintergrund. Für viele ist es vielleicht auch eine Entdeckungsreise gehen oder eine Reise des Hinterfragens. Da bietet sich der Text von Walter Jens ideal an.

Ich finde, Walter Jens hat für das Buch „Der Fall Judas“ eine Sprache entwickelt, die den Texten der Bibel ziemlich nahe kommt. Sehen Sie das ähnlich? Und wenn ja, hilft Ihnen das für die Performance?

Walter Jens war ein sehr gläubiger Christ. Und die Auseinandersetzung mit dieser Schuld, angeblichen Schuldfigur Judas, die Art und Weise, wie er sich als großer Rhetoriker damit auseinandergesetzt hat, kann von gläubigen Christen durchaus provokant verstanden werden, oder, wenn man es radikaler ausdrückt, sogar als blasphemisch empfunden werden. Aber was den „Klang“ des Textes betrifft, können sie Recht haben. Es handelt sich ja nun mal um eine biblische Figur. Von daher bietet sich das auch an. Mir ist das durchaus vertraut. Wenn man sich mit den Texten der Bibel auseinandersetzt und versucht, sich diese selbst zu erklären, entstehen ja auch Bilder: Ich z.B. glaube nicht, dass Jesus Christus übers Wasser gegangen ist. Ich glaube, dass das eine Metapher ist. Und diese Metapher finde ich weitaus spannender als das Wunder selbst. Denn das Wunder ist eine ganz einfache Geschichte, die wir uns nicht erklären können. Aber die Metapher (Wie geht jemand übers Wasser? Wer wagt sich das? Wer behauptet das? Und mehr noch: Wer wagt sich auf das Drahtseil?) zu verstehen oder zu hinterfragen, das interessiert mich wirklich.

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Nach rund 100 Minuten: Ben Becker erschöpft, aber zufrieden vor dem applaudierenden Publikum im Berliner Dom.

Ich habe den Eindruck, dass sie sich auf der Solo-Bühne besonders wohl fühlen oder zumindest Monologe besonders gerne spielen: Nicht nur auf der Bühne, sondern auch vor der Kamera: Ich denke da an Filme wie „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ (Regie: Oliver Hirschbiegel) oder Szenen aus „Schlafes Bruder“ (Regie: Joseph Vilsmaier) bzw. „Frau2 sucht Happyend“ (Regie: Edward Berger). Können Sie als Solist einem Text eher Leben einhauchen als das bei Dialogen der Fall ist?

Oh, das ist jetzt aber eine Frage, die zielt zum einen auf meine Eitelkeit… Ne, also Theaterspielen ist ja nun mal mein Beruf, und das hat auch etwas mit Fußball zu tun. Man spielt sich die Bälle zu. Und manchmal muss man ein bisschen foulen. Das kann auch großen Spaß machen.

Wenn Sie allein auf der Bühne stehen, können Sie aber niemanden foulen.

Deswegen ist es ja so schwer, die Frage zu beantworten. Ich bin vielleicht manchmal gerne unabhängig und habe auf diese Weise die Möglichkeit, meine Gedanken, meine Emotionen und meine – als Schauspieler ist man manchmal so – Egomanie zur Schau stellen. Das funktioniert natürlich mit einem Monolog besser, als wenn ich mit jemandem durch die Tür komme, „der mich stört“. Das klingt vielleicht etwas merkwürdig. Ich habe so was auch noch nie gesagt und meine es auch nicht eitel, sondern einfach nur ehrlich.

Wenn ich die Aufführung „Ich, Judas“ mit der Hörspiel-CD „Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ vergleiche, so ist der Live-Auftritt  wesentlich dramatischer. Ist es die Bühne, die das ausmacht oder treibt Sie das Publikum an?

Das ist natürlich auch die Arbeit an der Sache. Also ich würde diese CD heute anders aufnehmen, als ich es damals gemacht habe. Das war ja eine Auftragsarbeit, und ich hatte nur zwei, drei Wochen Zeit, mich darauf vorzubereiten. Und es handelt sich um einen unglaublich schwierigen Text. Wenn man den über einen längeren Zeitraum nicht mehr loslässt und sich mit ihm auch über die Aufnahme hinaus beschäftigt und ihn auf die Bühne bringt, dann gehen ganz andere Türen auf. Es gab übrigens von meiner Seite aus Überlegungen, den Text noch einmal live mitzuschneiden. Denn, da haben Sie recht, taucht eine andere Kraft auf. Trotzdem muss ich sagen, ist das, was man auf der CD hört, sehr wohl durchdacht und genau erarbeitet. Aber was die tieferen Emotionen angeht, ist die Bühnenfassung natürlich ganz anders.

Sie treten mit „Ich, Judas“ in Theatern und Kirchen auf, wo 300 bis 400 Besucher sind. Im Hamburger Michel oder im Berliner Dom werden es über 1.000 Besucher sein. Beim Katholikentag in Osnabrück (2008) sind Sie auch schon vor 26.000 Leuten mit der Bibel-Lesung aufgetreten. Gibt es für Sie eine ideale Publikumsgröße? Keith Richards sagte mal: „Am liebsten spiele ich in einem kleinen Club vor 300 Leuten!“

Ja, das ist ja klar. Das würde ich, wenn ich Keith Richards wäre, auch sagen. Keith Richards ist übrigens einer der wenigen Menschen, mit dem ich tauschen würde. Genau genommen ist er der einzige, mit dem ich tauschen würde. Klar ist, wenn du nur vor diesen Massen spielst, dann sehnst du dich natürlich nach Intimität. Was ich nicht mag oder womit ich Probleme habe, das ist, wenn ich vor 25 Leuten auftreten muss. Das finde ich seltsam. Da rückt mir das Publikum zu sehr auf die Pelle. Bei 300 Leuten fühle ich mich wirklich wohl. Aber im Großen und Ganzen ist es so: Ob da 300 sitzen oder 3.000, ich muss meine Arbeit machen. Und die mache ich mit vollem Einsatz, aus tiefstem Herzen und mit all meiner Liebe. Da ist es völlig egal, ob ich mit 26.000 Leuten vielleicht ins Guinness-Buch der Rekorde komme. Wobei das ausgesprochen schwierig ist, auf eine solche Publikumsgröße zu kommen. Das war beim Katholikentag auch echt schwer für mich, zumal das open-air war. Da fliegt dann ein Düsenflugzeug vorbei, dann startet einer sein Motorrad, und auch die Katholiken saufen und plötzlich übergibt sich einer. Das muss man viel Kraft aufbringen, sich da durchzusetzen. Aber die Kraft bzw. die Liebe zu dem, was ich dann zu sagen habe oder versuche zu vermitteln, die ist immer gleich.

 

Der Judas von Walter Jens stellt sich in den Dienst einer großen Sache, er dient Gottes Auftrag. Auch wenn das keiner außer Jesus versteht. Er ist sozusagen ein Schaf im Wolfspelz. Gefällt Ihnen das?

Ja, ich habe das ja auch aufgegriffen. Als ich mich entschloss, das auf die Bühne zu bringen, habe ich mich gefragt, was Judas wohl trägt. Da gingen mir verschiedene Szenarien durch den Kopf: Von der Verkleidung als IS-Soldat bis hin zum orangen Overall aus Guantanamo. Weil Sie gerade von einem „Schaf im Wolfspelz“ sprachen: In der Bibel geht es ja immer wieder um das Lamm. Das Lamm, das uns Gutes tut. Das Lamm, das befreit. Aber auch das Lamm, das geschlachtet wird. Und so habe ich mich für einen Lammledermantel für die Aufführung entschieden. Ich habe mich gefragt: Ist er selber ein Lamm oder hat er das Lamm geschlachtet? Das ist ja die Fragestellung, die im Raume steht. Ist er ein Wolf im Schafspelz? Nach all meinen Auseinandersetzungen würde ich das verneinen. Denn ein Wolf im Schafspelz ist ein verlogener Hund. Und das ist Judas nicht. Der wurde von Liebe dahin getrieben, zu tun, was er tun musste.

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Klaus Kinski war als Rezitator des Neuen Testaments in den 50er Jahren auf deutschen Bühnen unterwegs. 1971 trat er mit „Jesus Christus Erlöser“ gar in der Berliner Deutschlandhalle vor rund 8.000 Besuchern auf. Auch wenn der Auftritt  zu einem Megaflop mit Publikumsbeschimpfung ausartete. Bedeutet es Ihnen etwas, in die „Fußstapfen“ von Klaus Kinski zu treten?

Den Vergleich habe ich schon mal gehört. Das schmeichelt mir auch ein bisschen, weil ich Kinski immer mochte – in all seinem Wahnsinn. Als kleiner Junge saß ich in Osterstedt, das ist in Schleswig-Holstein, bei meiner Tante Anneliese, und da haben wir dann abends Edgar Wallace geguckt. Und dann fand ich das immer unheimlich spannend, wenn dieser Typ mit dem Silbertablett (Klaus Kinski) kam. Da habe ich mich unterm Sofa verkrochen. Ich glaube, Klaus Kinski war ein ganz sensibler, feiner Mensch. Natürlich auch ein sehr extrovertierter Typ. Aber Kinski fand ich immer spannend und finde ihn auch noch heute spannend. Von der Bibel, die er gemacht hat, gibt es ja einen Dokumentarfilm. Auf der Bühne in der Deutschlandhalle hat er gesagt: „Gesucht wird Jesus Christus! Wo finde ich den? Bei den Junkies, bei den Nutten, im Knast?“ Das hat natürlich Aufsehen erregt, und die Vorstellung musste zunächst abgebrochen werden. Das Publikum hat ihn fertig gemacht. Kinski wiederum reagierte auf seine Weise: „Jesus hätte eine Peitsche genommen und sie dir durch die Fresse gehauen!“ Irgendwann sind die meisten Leute gegangen. Und zum Schluss – nach Mitternacht – stand er in der fast leeren Deutschlandhalle, in die etwa 8.000 Leute rein passten, und es saßen nur noch 150 Kinski-Anhänger da.

Das erinnert an Jesus: Von den Massen verlassen stirbt er am Kreuz und nur eine Hand voll Menschen bleibt bei ihm.

Stimmt. Und dann hat Kinski seinen Monolog ohne Mikrophon durchgezogen. Er hat aber nicht einen Bibeltext zitiert, sondern hatte einen eigenen Text geschrieben. Ich glaube, es waren 36 Seiten. Natürlich war es eine Auseinandersetzung mit der Bibel. Aber das ist etwas andere. Deswegen hinkt der Vergleich.

Ich wollte auch auf etwas anderes hinaus: War Klaus Kinski für Sie in irgendeiner Weise eine Referenz?

Als Schauspieler ist er eine Referenz für mich. Aber als Schauspieler liebe ich auch andere: Meine Liebsten sind Gert Fröbe, Klaus Kinski, Peter Lorre, Curt Bois oder Michael Kane, übrigens auch Sylvester Stallone. Denn das sind Leute, die versucht haben, sich auszudrücken und die etwas mitzuteilen hatten. Deswegen nehme ich sie sehr ernst, und manche von denen liebe ich.

Es gibt Schauspieler, die spielen gerne Charaktere, die ihrer eigenen Persönlichkeit ähnlich sind oder wo es zumindest Aspekte gibt, mit denen sie sympathisieren können. Andere Schauspieler spielen am liebsten Charakter, die nichts mit ihnen selbst zu tun haben. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Oh, das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Charaktere, wo ich sage: „Irgendeiner muss sie ja spielen.“ Die liebe ich aber nicht. Ich kann mittlerweile SS-Uniformen nicht mehr sehen. Habe ich ja nun reichlich gemacht und irgendwelche Leute erschossen. Die meisten Figuren, die ich so spiele, habe ich aber irgendwie, auf verkorkste Art und Weise, gern. Jetzt wird mir nachgesagt, dass ich immer Böse spiele. Also meine Tochter fragte mich: „Warum spielst du immer einen Bösen?“ Wobei ich nicht immer nur Böse spiele, muss ich dazu sagen. Liebenswerte Charaktere mag ich unheimlich gern, die werden mir aber leider zu selten angeboten. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich unheimlich Angst vor Obrigkeit habe, vor Befehlston, vor Aggressivität, vor Bösartigkeit. Und aus dieser Angst heraus kann ich diese Charaktere ganz gut spielen. Also ich kann unheimlich gut so tun, als wäre ich das größte Schwein, was herum rennt. Das bin ich aber nicht. Trotzdem macht es Spaß, im Kasperletheater das Krokodil zu spielen. Letztlich aber sind mir die leicht naiven, feinfühligen Charakter lieber, weil sie mir eher entsprechen.

Sie betonen zuweilen, dass Sie Kommunist seien oder zumindest bekennender Linker. Gibt es da für Sie eine Verbindung zum Christentum? Auch Jesus war eine Art Revolutionär, der in einer Gesellschaft, die vom Kaiser bis zum Sklaven komplett unterteilt war, von Nächstenliebe und von der Gleichheit aller Menschen sprach.  

Ich weiß nicht, ob ich mich als Linken bezeichnen würde. Das ist so ein bisschen zwischen den Türen. Ich bin immer noch Kommunist! Und zwar nicht im Sinne des ehemaligen DDR–Scheiß´, sondern ich rede da gerne von einer Utopie. Es gab so eine Art Ur-Kommunismus. Und den finde ich auch in der christlichen Lehre. Wenn man einer katholischen Messe beiwohnt, dann stehen am Ende (nach dem Vater-Unser) die Leute in der Kirche und reichen sich herzlich die Hände und sagen: „Friede sei mit dir, Bruder!“ Für mich hat das etwas mit Ur-Kommunismus zu tun oder mit dem Gedanken des Kommunismus´. „Alle Menschen werden Brüder!“ Ich gebe zu, Frau Merkel würde zu mir sagen: „Herr Becker, das ist aber naiv!“ Dann würde ich sagen: „Frau Merkel, ich bin aber gerne naiv!“ Deswegen bin ich Schauspieler und Künstler geworden – und nicht in die Politik gegangen, so wie Sie. Außerdem möchte ich mir nicht Ihren Stress nicht antun.“ Die schläft ja nachts nur vier Stunden. Und ich nehme mir da mehr raus.

Interview: Berlin, Oktober 2016

Die aktuellen Tourneedaten von „Ich, Judas“

Das Hörbuch „Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ ist am 11. August 2015 im
Herder Verlag erschienen und kostete ca. 18 Euro.
ISBN-10: 3451350963 // ISBN-13: 978-3451350962

Das Buch „Der Fall Judas“ von Walter Jens erscheint im Ludwigsfelder Verlagshaus. Die Neuauflage kommt in diesen Tagen in den Handel. Das Buch kostet 15 Euro.

Info: Tom Tykwer und die Geschichte des Moviemento auf DVD

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„Auf der anderen Seite der Leinwand – 100 Jahre Moviemento“ erzählt nicht nur Tom Tykwers Geschichte. (photo: Bernd Sobolla)