Jerusalemer Gespräche, Bonn
„Der Nahe Osten ist ein Siedetiegel!“
„Jerusalem Talks“ lautet eine Gesprächsreihe, die ursprünglich von der Autorin und Filmemacherin Ines Fuchs und der Heinrich Böll Stiftung initiiert wurde und die seit 2014 in der Cinematheque in Jerusalem stattfindet. Das Konzept: Vertreter aus Religion, Philosophie, Politik und Wissenschaft diskutieren über gesellschaftliche Phänomene und kulturpolitische Veränderungen in der ganzen Welt. Obwohl das Diskussionsforum noch recht jung ist, hat es bereits einen Ableger gefunden, nämlich in der Bonner Kunsthalle. Dort findet nun Ähnliches unter der Überschrift „Jerusalemer Gespräche, Bonn“ statt. Unter dem Motto „Der Nahe Osten – Ein Schmelztiegel der Menschheit“ waren am Sonntag (15. Januar) die ungarische Philosophin Ágnes Heller und der israelische Schriftsteller David Grossman eingeladen (Der deutsche Theologe und Archäologe Dieter Vieweger war der dritte Gast). Mit beiden konnte ich vorab über das Verbindende und das Trennende zweier Völker und dreier Weltreligionen im Nahen Osten sprechen.
Bernd Sobolla: Frau Heller, ist der Nahe Osten angesichts der Situation für Sie noch ein Sehnsuchtsort?

Die ungarische Philosophin Àgnes Heller.
Ágnes Heller: Das ist sehr schwer zu beantworten. Man hat Sehnsucht nach etwas, was man nicht besitzt, z.B. die Sehnsucht nach einer unerfüllten Liebe. Aber seit Israel existiert, kann man Israel nicht mehr als Objekt einer Sehnsucht bezeichnen. Es war der Ort der Sehnsucht für Jahrhunderte. Für mich ist Israel heute eher ein Objekt der Liebe, des Interesses und der Solidarität.
Herr Grossman, es ist lange her, dass man positive Nachrichten aus Israel hörte. Was könnte die beiden Konfliktparteien in der aktuellen Situation wieder näher bringen?
Extremismus, Nationalismus, Fanatismus
David Grossman: Was uns näher bringen könnte, wäre ein nüchternerer Blick auf die sehr komplexe Realität des Nahen Ostens. Und wenn ich Naher Osten sage, dann beziehe ich mich auch auf das Grauen, das sich gerade in Syrien abspielt, im Irak, in Libyen und in gewissem Maße auch im Libanon. Es ist unerträglich mit anzuschauen, wie überall so viel Blut vergossen wird. Aber zum Nahen Osten gehört natürlich auch der israelisch-palästinensische Konflikt. Ich glaube, es wäre ein erster wichtiger Schritt, wenn beide Seiten verstehen würden, dass eine Situation, in der es keine Friedensinitiative gibt, dazu führt, dass das gegenseitige Morden weiter geht. Ansonsten fürchte ich, dass die Besatzung weiter geht, wobei Israel zusehends seine Demokratie verliert und wir immer mehr Extremismus, Nationalismus und Fanatismus erleben. Keiner kann das wirklich wollen.
Sie sind bekennender Atheist. Glauben Sie, dass die Religionen eher die Quelle für die Probleme sind oder eher zu Lösungen beitragen können?
Moslems gehen voller Hass gegen ihre eigenen Brüder vor

Der Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman unterstützt die Gründung eines palästinensischen Staates.
David Grossman: Die Religionen sind auf seltsame Weise beides: Denn ein Konflikt, für den sich in absehbarer Zukunft keine Lösung abzeichnet, tendiert dazu, von einem politischen Konflikt zu einem religiösen Konflikt zu werden. Diese Konflikte bekommen einen hermetischen Charakter. Es ist absolut notwendig, eine politische Situation zu schaffen, um dieses geplagte Stück Land in zwei zu teilen, bevor sich das Ganze zu einem fanatisch fundamentalistischen Dauerkonflikt zwischen Juden und Arabern manifestiert. Dafür bräuchten wir einen Staat Israel, dessen Zukunft garantiert ist – unsere Sicherheit. Wir erleben, wie gewalttätig, aggressiv, ja, voller Hass die Moslems gegen ihre eigenen Brüder vorgehen. Was die sich untereinander antun, schockiert mich zutiefst. Und man kann sich vorstellen, was sie Israelis antun würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Israel muss also eine sehr starke Armee haben, um sich zu verteidigen. Wir sollten stark und immer in Alarmbereitschaft sein und zugleich all unsere Fähigkeiten einsetzen, um Frieden mit den Palästinensern zu erreichen und einen palästinensischen Staat zu schaffen. Es sollte ein souveräner, unabhängiger Staat sein, mit der Hoffnung, dass die Palästinenser nicht länger unter dem Schatten der Besatzung leben müssen. Ich will weder einen Schatten über ihnen noch über uns sehen. Und ich glaube, wenn das gelingt, haben Israelis und Palästinenser eine Chance, zusammen eine Zeit der Blüte zu erleben.
Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten ist ein Religionskrieg
Ágnes Heller: Der Konflikt zwischen Juden und Christen ist schon ziemlich alt und heute nicht sehr relevant. Beide Religionen fürchten sich vor dem Islam oder fühlen sich zumindest bedrängt von der islamischen Religion. Heute gibt es keine religiösen Kriege mehr zwischen Christen und Juden. Aber es gibt religiöse Kriege im Islam. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten ist ein Religionskrieg. Ganz unabhängig davon, ob sie zur einen oder anderen Nation gehören, weil Nationen im arabischen Teil der Welt nicht so existieren, wie es sie in Europa gibt.
Viele junge Israelis sehen heute in Berlin einen Sehnsuchtsort, und für viele junge Araber kann man das für Deutschland bzw. Europa allgemein sagen. Wie beurteilen Sie diese Emigration?
Berlin ist kein neutraler Ort für uns Juden
David Grossman: Ich sehe mich nicht als Experte, darüber zu urteilen, was mit den jungen Arabern oder Israelis passiert, die nach Europa strömen. Nach Deutschland kommen sie in sehr unterschiedlicher Art und Zahl: Die meisten Israelis kommen als unabhängige Leute, mit einer gewissen Neugier. Einige sicher auch, weil sie diesen andauernden Konflikt in Israel nicht mehr ertragen. Sie wollen irgendwo anders sein. Es ist schon seltsam für mich, dass viele dafür Berlin auswählen. Denn Berlin ist kein neutraler Ort für uns Juden. Die Stadt ist voller Geschichte, Tragödie und mit der Erinnerung an die Shoah behaftet. Dennoch schaffen es diese jungen Leute, die vibrierenden und strahlenden Seiten Berlins zu genießen. Für sie ist es eine Art Kultur-Hauptstadt. Und der Lebensinstinkt dieser jungen Leute sorgt dafür, dass sie einfach ignorieren, was vor 60, 70 Jahren hier geschah. Die jungen Araber hingegen kommen unter ganz anderen Vorzeichen nach Deutschland bzw. Europa. Sie sind Flüchtlinge, sie fliehen vor Krieg und Schicksalsschlägen. Sie wollen einfach nur überleben. Sie werden einen Einfluss auf Europa haben. Es muss darum gehen, sie zu schützen und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Gleichzeitig ist es ebenso wichtig, dass die Länder ihren jeweiligen Charakter behalten. Natürlich bleibt der nicht immer und für alle Zeiten gleich, denn das Neue sorgt auch für Veränderungen. Ich glaube, die nächsten Jahre werden in diesem Sinne sehr interessant werden.
Was müsste passieren, um den Nahen Osten wieder zu einem Sehnsuchtsort zu machen?
Ágnes Heller: Das ist, ich glaube, ein Traum. Man kann natürlich von vielen Dingen träumen. Aber wenn man realistisch ist, glaube ich kaum, dass das zustande kommt. Ich glaube, dass die Welt ein gefährlicher Platz ist und dass wir keine privilegierte Position in der Weltgeschichte haben. Bis zum heutigen Tag war die Welt ein gefährlicher Ort und sie wird es bleiben. Wo die Welt am gefährlichsten sein wird, das können wir nicht voraussagen. Wir sollten auch keine Utopien entwickeln. Denn Utopien sind gefährlich.
Wenn man die Gefahr sieht…
Warum sind Utopien gefährlich?

Glaubt eher an den Wert von Dystopien als Utopien, Ágnes Heller.
Ágnes Heller: Weil sie sich nie verwirklichen. Und daran verzweifeln wir, und Verzweiflung ist der schlechteste Ratgebern, den man den Menschen geben kann. Dystopien, also negative Utopien, sind heute eher behilflich. Denn wenn man die Gefahren sieht, kann man etwas gegen die Gefahren tun oder sie vermeiden. Aber wenn man an die glückliche Zukunft glaubt, ist das gefährlich.
Wie beurteilen Sie heute die Möglichkeit des Nahen Ostens, wieder eine Art Schmelztiegel der Völker zu sein bzw. zu werden?
David Grossman: Wo sehen sie denn im Nahen Osten einen Schmelztiegel? Jeder Stamm in der arabischen Welt will heute sein eigenes Land haben. Es gibt keine Partnerschaften zwischen arabischen Ländern und Israel, ja, nicht einmal unter den arabischen Ländern selbst. Man muss wohl eher von einem Siedetiegel sprechen als von einem Schmelztiegel. Und der kocht auf sehr aggressive Weise. Außerdem weiß ich gar nicht, ob die Idee eines Schmelztiegels eine gute Idee ist. Ich interessiere mich eher dafür, wie verschiedene Elemente ihre Identität und ihre Kultur erhalten können. Ich will gar nicht, dass sie ineinander vermengt werden und so ihre Identität verlieren.
Ágnes Heller: Alle Länder der Welt sind Schmelztiegel, nicht nur der Nahe Osten. Das ist doch die Geschichte, unsere Geschichte. Kein einziges Volk lebt am Platz, wo es vorher gelebt hat. Auch die Eingeborenen von Neuseeland sind von einem anderen Ort dort hingekommen. Alle haben Teile ihrer Geschichte auch an anderen Plätzen erlebt. Auch die Geschichten, die sie in der Bibel lesen, sind ein Ausdruck dieser Tatsache: Das Volk der Hebräer kommt ins Gelobte Land… eroberte das Land von anderen, die dort schon lebten und andere vor ihnen eroberten. Das gilt ebenso für Babylon, Ägypten, Syrien, das Römische Reich oder Griechenland. Alle großen Kulturen entstanden aus solchen Vermischungen.
Interviews am 15. Januar in Bonn