Ab 3. Juni im Berliner Moviemento Kino
Mit verzweifeltem Enthusiasmus: Sechs Schauspieler/-innen im Langzeitportrait
Wir befanden uns Mitte der 1990er Jahre: Ganz Deutschland war von Filmimperialisten besetzt… Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Künstlern bevölkerter Bezirk hörte nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. An seiner Spitze die Rebellin Christiane Nalezinski, die mit ihren Filmen von Kreuzberg aus den deutschen Mainstream angriff. Sie errang einen Anerkennungssieg gegen das Imperium, indem sie die „Linsenstraße“ drehte, eine achtteilige Serie, in einer Zeit, da noch niemand in Deutschland über die Möglichkeiten der Serie überhaupt nachdachte. Ein Geniestreich der Subkultur über den Kreuzberger Graefekiez, der nie die Anerkennung fand, die er verdient hätte. Heute, rund 25 Jahre später, erscheint ihr Nachfolgefilm „Wir wir einmal (fast) berühmt wurden“. Für den Dokumentarfilm begleitete die Filmemacherin die Schicksale ihrer Protagonisten/-innen über 25 Jahre. Herausgekommen ist dabei ein Werk, das sich nicht nur alle Schauspieler/-innen (und die, die es werden wollen) ansehen sollten. Bernd Sobolla sprach mit Christiane Nalezinski anlässlich des Kinostarts über Enthusiasmus und Durchhaltewillen, Kunst und Verzweiflung.

Wie alles anfing: Die Schauspielerin und Regisseurin Christiane Nalezinski und Lothar Wiese in der „Linsenstraße“. (Foto: Augapfel Film)
Bernd Sobolla: Christiane, „Die Linsenstraße“ war in den 1990er Jahren dein großes Projekt. Warum hast du deine Protagonisten nach dem Ende der Serie eigentlich dokumentarisch weiterbegleitet? Und dann auch noch über 25 Jahre?
Christiane Nalezinski: Dass es das Ende war, wusste ich ja zunächst noch gar nicht. Das war nicht so genau definiert, wie es jetzt vielleicht im Rückblick aussieht. Als das Schauplatz-Theater und kurz darauf der Trödel schlossen, hatte ich ja schon jede Menge neues Material gedreht: Dialoge, Szenen vor dem Trödel, einen Albtraum, Dokumentarisches wie Auftritte und Veranstaltungen im Schauplatz-Theater, Karneval der Kulturen… Ich wollte einfach weitermachen. Dann habe ich für das „Nachbarschaftshaus Urbanstraße“ das Seniorenfasching gefilmt, und daraus ergab sich die Idee für die 8. Folge: „Minirock im Farbenschock“. Das haben wir an einem Tag abgedreht. Geschnitten habe ich es allerdings erst 10 Jahre später, als alle Folgen nochmal im Moviemento gezeigt wurden. Außerdem sah ich mich ja immer noch in erster Linie als Schauspielerin: Mal einen Drehtag, mal einen Synchronauftrag, ich lebte von der Hand in den Mund – Hauptsache, ich konnte mein Ding durchziehen! Dann bekam ich einen Schnittraum in einer Seniorenfreizeitstätte, es kamen Anfragen vom Nachbarschaftshaus und vom Seniorenamt dazu. Daraus entwickelten sich Projekte, auch größere Aufträge, und irgendwann hatte ich einfach keine Zeit mehr…
Die Idee, aus dem Material einen Film zu machen, hat sich erst später entwickelt. 2004, 10 Jahre nach dem ersten Drehtag, habe ich dann die ersten Interviews mit den Protagonisten von einst gemacht: Wie seht ihr das Projekt „Linsenstraße“ heute? Was hat sich seit damals getan? Wo steht ihr heute? Was ist aus euren Träumen geworden? Diesmal wollte ich es professioneller angehen und suchte eine Produktionsfirma, die Förderung beantragt. Es gab auch ein paar Anläufe, aber letztlich hat sich niemand so richtig für das Projekt eingesetzt, trotz eines „Letters of Intent“ von Uli Maas vom Filmfest München, den Oskar Roehler auf die „Linsenstraße“ aufmerksam gemacht hatte.
Sofort war mehr Geld im Beutel
Wie haben denn deine Protagonisten reagiert, als du in gewissen Abständen immer wieder aufgetaucht bist und quasi ihre Lebensbiografie nachgezeichnet hast?

Dragqueen und „Linsenstraßen“-Protagonistin Stefan Stricker alias Juwelia Soraya (Foto: Augapfel Film)
Mit Stefan, alias Juwelia Soraya, war ich ja sowieso immer „on filming terms“. Er ist ja ein wandelndes Gesamtkunstwerk und seine Wohnung ein Fest fürs Auge: die Lämpchen, Blumen, Bilder, Klamotten… Stefan liebt die Kamera, und sie liebt ihn. Dann stieg auch noch sein Lebensgefährte Lothar ein und moderierte. Das war Showtime pur. Er ist ein begnadeter Imitator und kann sämtliche Fernsehansagerinnen aus den 60ern nachmachen. Wenn ich Stefan auf seinen Kneipentouren oder beim Singen durch Clubs begleitet habe, dachten die Leute, ich sei vom Fernsehen und Stefan wäre berühmt. Und sofort war mehr Geld im Beutel…

Viola Livera lebt heute in Hamburg und arbeitet vorwiegend als Performance-Künstlerin. Sie fasziniert das Publikum u.a. mit ihren poetischen Fantasiewelten, die sie in Parks und Open Air aufführt. (Foto: Augapfel Film)
Viola hat sofort zugesagt, auch wenn wir uns einige Male angefaucht haben. Ich hatte ja schon einen Auftritt im Kempinski und ihre Krimidinners gefilmt. Sie erschien im Pelz im Café am Stuttgarter Platz, und ich fand sie irgendwie zu selbstgewiss. Erst beim Schneiden habe ich gemerkt, was für tolle Sachen sie gesagt hat. Jörg, der mittlerweile in München lebt, war nach anfänglichem Widerstand überraschend offen und mitteilungsfreudig. Einzige Bedingung: Ich durfte seine Wohnung nicht filmen. Gabi war mir gefühlsmäßig am nächsten, sie hat viel von dem ausgedrückt, was ich auch fühle. Das war sehr berührend. Dirk hatte ich ganz aus den Augen verloren.
Die Interviews 2013/14 waren anders. Diesmal hatte ich einen erfahrenen Kameramann dabei, den Filmemacher Harald Rumpf. Das hat die Stimmung verändert. Stefan hat immer wieder protestiert: „Mensch, Marlene, was machst du mit mir, das ist ja hier Psychotherapie!“ und zwischendurch gähnte er: „Wer will denn das sehen, die Bekloppten aus Kreuzberg? Marlene, das interessiert doch keinen…!“ Manchmal dachte ich: „Oje, was soll das werden?“ Aber am Ende hatte ich so viel tolles Material, dass ich über jeden ein 2-stündiges Portrait hätte machen können.
Zwischendurch dachte ich auch mal an ein 4-stündiges Epos á la Rivettes „Schöne Querulantin“ oder etwas im Stil von Terence Malick. Der macht ja auch nichts unter drei Stunden. So in dieser Länge etwa habe ich eine Filmfassung im November 2018 an die Berlinale geschickt. Aber sie wollten ihn nicht haben! Naja, meine Dramaturgin Kyra Scheurer hat mich dann von dieser Fassung abgebracht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden: Es ist ja viel schwieriger, aus 600 Stunden Material 90 Minuten zu machen, als vier Stunden! Es ist ja letztendlich ein Generationenportrait, und den Aspekt Familie und Beziehungen musste ich ganz draußen lassen. Da hat mir das Herz geblutet. Und es ergab sich noch ein ganz überraschender Aspekt an der Nahtstelle Kunst und Familie, der sich erst bei den Interviews herauskristallisiert hat…aber das ist ein anderes Thema. Niemand wusste ja vorher, was ich fragen will. Es gab keine Absprachen. Die Leute wussten überhaupt nicht, auf was sie sich einlassen…

Szene aus „Linsenstraße“. Wolf-Dirk Vogeley als Businessmann im Graefekiez. Er ist der Protagonist, der „Wie wir einmal (fast) berühmt wurden“ mit Zitaten, Gedichten und Philosophie bereichert. (Foto: Augapfel Film)
Dirk hatte ich am längsten nicht gesehen, und er wollte gleich zu Beginn, quasi als Einführung, etwas vorlesen: 13 Thesen wider Snobisten von Walter Benjamin. Und gleich die erste These hat mich umgehauen: „Der Künstler macht ein Werk, der Primitive äußert sich in Dokumenten“. Unverschämt, dachte ich, was will er damit sagen? Dass ich primitiv bin, weil ich einen Dokumentarfilm drehe!??? Ich musste mich schwer zusammennehmen, um nicht gleich aus der Rolle zu fallen, und konnte froh sein, dass Kameramann Harald Rumpf das Ganze überspielt und die Stimmung aufgelockert hat.
Jeder hätte das Zeug gehabt, Karriere zu machen
Deine Protagonisten waren bzw. sind zum Teil seit vielen Jahren im Filmgeschäft, im Theater, haben aber das, was man Durchbruch nennen könnte, nicht erlebt. Hast du damit gerechnet, rückblickend? Hast du eine Vision gehabt, was die nächsten Jahrzehnte noch mit ihnen passieren könnte?
Bei Dirk war ich fest davon überzeugt, dass er Karriere macht. Aber er hatte wohl nie das Ziel, berühmt zu werden – im Übrigen niemand von uns – viel zu anstrengend! Dirk ist, glaube ich, ganz in seiner Arbeit aufgegangen, in der Beschäftigung mit dem jeweiligen Stoff. Und dafür, dass er sagt, er wollte kein Bücherwurm werden, hat er ganz schön viel gelesen…
Bei Jörg muss ich immer an diesen wunderbaren Film „Mein liebster Feind“ von Werner Herzog mit Klaus Kinski denken. Der wütet wie einen Berserker gegen Herzog, und dann lässt Herzog ihn seine Szene spielen, und er läuft zu Höchstform auf. Kinski konnte ja ein entsetzlicher Schmierant sein. Ich habe Jörg nie wieder so gut gesehen wie in der „Linsenstraße“, aber als ich das äußerte, war er empört: „Was bildest du dir ein?!!! Das Ergebnis zählt.“
Viola war dagegen pflegeleicht. Sie ist schnell, konnte ihren Text und wäre gern Serienschauspielerin geworden. Schade, dass es nicht geklappt hat. Aber was nicht ist, kann ja noch werden!

Gabi Schmalz: Energiebündel, Frau für Komik und Verzweiflung. Ihr Opa schlug ihr vor: „Gabi, lass uns doch zusammen eine Tankstelle aufmachen. Abends kannst Du dann immer noch Hula Hula machen“ (deiner Schauspielleidenschaft nachgehen). (Foto: Augapfel Film)
Gabi hatte schon 2004 gesagt: „Meine Karriere ist gescheitert!“ Warum sie nicht mehr gekämpft hat, weiß ich nicht. Sie hatte, wie Dirk, vier Jahre lang an der Hochschule der Künste (heute UdK) Schauspiel studiert, ist ein sehr temperamentvoller Typ, hat lange Kabarett gemacht, kann singen, tanzen, fechten, hat Rhythmusgefühl… Aber ich glaube, etwas tief drin in ihr hat sie gehindert.
Ich glaube, jeder/jede hätte das Zeug gehabt, Karriere zu machen. Aber die hängt ja nicht nur vom Talent ab! Ich glaube, keiner von uns war zielgerichtet genug. Das ist ja auch ein Thema des Films: Du musst aus deinem Traum erwachen, wenn du ihn verwirklichen willst. Und wenn du einen Traum verwirklichst, ist es kein Traum mehr. Ich glaube, uns allen fehlte die Vorstellung davon, was es bedeutet, Karriere zu machen bzw. vom Schauspielerberuf leben zu können, und welche konkreten Schritte man dazu unternehmen muss. Und auch wenn man es weiß, muss man auch noch fähig sein, es zu tun! Träumer und Anarchisten könne sich schlecht auf diese Karrieremuster einlassen. Um Karriere zu machen, musst Du dich fast immer auch ein Stück weit verkaufen.
Ich fühlte mich wie eine Hebamme
Wie würdest du deine eigene Rolle beschreiben? Bist du eher eine halbe Protagonistin oder sogar die Oberprotagonistin? Denn du hast ja nicht nur mitgespielt in der „Linsenstraße“. Du hast Drehbuch, Regie, Schnitt und Produktion gemacht. Wie siehst du deine Rolle in diesem Konglomerat von Filmen?
Oberprotagonistin – dass ich nicht lache! Dafür haben schon meine Mitspieler gesorgt, dass ich keine Oberprotagonisten werde! Nee, ich fühlte mich eher wie eine Hebamme. Der Tagesspiegel hat damals geschrieben: „Die Mutter Beimer … – das war natürlich Quatsch! Aber dass sie der „Linsenstraße“ eine ganze Seite gegeben haben, das fand ich toll!
Als Schauspielerin habe ich immer den Regisseur vermisst. Aber es hätte ein Zwilling sein müssen, ich konnte ja nicht gleichzeitig spielen und auf mich draufgucken. Oft habe ich mich am Schneidetisch geärgert. Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, die dem Ganzen geschadet haben. Und ich als Regisseurin hätte das sofort gesehen! Deshalb war der Spaß nicht uneingeschränkt. Am meisten Spaß haben mir die Ansagen gemacht. Die haben wir in Lothars Zimmer gedreht. Er hat Licht und Ton gemacht, Juwelia war Stylistin und hat Christbaumkugeln an mir aufgehängt, Kunstblumen drapiert, alte Unterröcke … oder blumige Tagesdecken aus den 60ern hinter mir aufgehängt. Ich lernte währenddessen meinen Text auswendig, den ich kurz vorher geschrieben hatte, das war immer sehr lustig.
Transen, Träumer, schräge Typen, Anarchisten…
Manchmal macht man ja die richtigen Dinge zur falschen Zeit. Hätte die Idee „Linsenstraße“ heute im Serien- und Netflix-Zeitalter mehr Chancen?
Ganz sicher! Aber so weit habe ich damals gar nicht gedacht. Ich wollte machen! Mein Ziel war es nie, Geld zu verdienen, sondern Ideen umsetzen, der Öde des Kulturbetriebs etwas entgegensetzen. Meine Protagonisten haben mich zu Geschichten, Szenen, Dialogen angeregt und inspiriert. Die wollte ich von jetzt auf gleich umsetzen. Das hat mich angetrieben, das hat mich glücklich gemacht. Ich habe viel ausprobiert. Außerdem habe ich mich ja immer noch als Schauspielerin gesehen. Filmemacherin oder Produzentin zu sein, das hatte ich nicht auf dem Schirm. Ich hab’s ja nur gemacht, weil es keinen anderen gab, der es gemacht hätte.
Netflix will Kohle machen, da musst du reinpassen, wissen was du willst und das richtige Umfeld haben. Etwas vom Ende her denken, oje, davon war ich damals weit entfernt. Heute ist das ja schon fast Mainstream: Transen, Träumer, schräge Typen, Anarchisten…damals war das wirklich neu. Dogma habe ich damals auch schon gemacht – aber nicht als Style sondern in echt! Ich erinnere mich, wie mich ein Journalist fragte, was ich mit der Serie vorhabe. Er wollte die Story hören: Aufstrebende Regisseurin träumt davon, glanzvolle Karriere zu machen – nichts davon hatte ich im Sinn.

Szenenfoto aus „Linsenstraße“ / Graefekiez. (Foto: Augabpfel Filme)
Was war die wichtigste Erfahrung im Rahmen dieser beiden Filmprojekte für dich?
Was die „Linsenstraße“ betrifft: Meine Vorstellungen zu verwirklichen! Ich hatte so viel Falsches auf der Bühne erlebt. Es kam mir alles so sinnlos vor. Was sollte das? In Kreuzberg dagegen tobte das Leben. Die Menschen waren voller ungewöhnlicher Geschichten, tausendmal spannender als alles, was ich auf der Bühne erlebt hatte. Was an der Ecke im Trödel oder im Schauplatz-Theater los war, das war Kafka, Beckett pur. Da lagen die Geschichten auf der Straße, das war Theater pur. Das Schauplatz-Theater mit seinen philosophierenden charismatischen ‚Rotnasen‘, wie es H.P. Daniels im Nachruf von Uli Berger schrieb, da war das Leben!
Meine Schauspieler hatten keine Lust, das zu machen, was ich ihnen sagte
Und für Dich persönlich?
Dass ich plötzlich auf der anderen Seite stehe! Als Schauspielerin war ich renitent, innerlich oft am Rand der Sabotage. Der Regisseur war mein Feind. Erfüllungsgehilfin für seine Ideen zu sein, nee, so hatte ich mir das nicht vorgestellt! Jetzt bei der „Linsenstraße“ war plötzlich i c h diejenige, die ihre Ideen verwirklichen wollte. Und meine Darsteller hatten auch keine Lust, das zu machen, was ich ihnen sagte. Da musste ich viel lernen. Da hat sich meine Einstellung fundamental geändert! Ich glaube, man nennt das „Verantwortung übernehmen“. Und dann das Wichtigste: Ich habe gelernt, trotz aller Schwierigkeiten weiterzumachen. Aufgeben gibt’s nicht! Höchstens mal eine Woche Auszeit mit Depression.
Da hast du eine Menge gemein mit
…Juwelia! Ich war genauso ein Saboteur wie – nee, stimmt nicht. Ich habe nie eine Produktion gesprengt, habe letztendlich alles durchgezogen. So professionell war ich immerhin…
Ich meinte gar nicht Juwelia, ich meinte Jörg.
Ach so, ja, stimmt. Der ist ja auch ein Saboteur. Naja, ich glaube, die ganze „Linsenstraße“ ist voller Saboteure…
Der Glamourfaktor war gleich Null
Was war der schönste, was war der schrecklichste Moment?
In der zweiten Folge klettere ich als Marlene aufs Dach und will mich umbringen – die Szene kam nicht von ungefähr. Die Premiere der ersten Folge im Kino Eiszeit war ein Desaster. Der Glamourfaktor war gleich Null. Jeder sah sich als kommenden Star, und jetzt das. Der Ton war das Schlimmste. Hohn, Spott und Häme regneten auf mich nieder. Und niemand wollte mehr mitmachen. Stefan und Lothar blieben aus Mitleid dabei, à la: „Naja, wir sind befreundet, wir lassen die arme Marlene jetzt nicht im Stich!“ Oje, das war hart. Die dritte Folge haben wir dann zu dritt bewältigt…
Gab es überhaupt schöne Momente?
Natürlich! Es gab viele schöne Momente, sonst hätte ich doch nicht weitergemacht. Wenn ich eine Idee hatte, losgezogen bin, und die Idee hat funktioniert, dann war ich glücklich. Das konnte ein Dialog sein, Ping-Pong, Ping-Pong, oder eine Situation, eine Lichtstimmung, eine Einstellung, hey, da war ich Master of the Universe. Da hatte ich die Miesmacher überlistet, die sagten: „Das geht nicht!“ Ich war Zauberin, Magier, war die, die aus Scheiße Gold macht – mit so geringen Mitteln. Ich nannte es den Josef-von-Sternberg-Moment. In einem Interview hatte er mal sinngemäß gesagt: Wenn bei einem Film nur rauskommt, was ich geplant habe, dann bin ich nicht zufrieden. Es muss das Quentchen ‚Mehr‘ dazukommen, das den Film auf eine andere Ebene hebt. Ja, wenn ich dieses Mehr erreicht hatte, dann war ich glücklich. Wenn ich gemerkt habe, dass mein Konzept aufging.
Aufhören war keine Option
Der schlimmste Moment?
An dem Dokumentarfilm arbeite ich jetzt seit über fünf Jahren, ich habe Federn gelassen. Die schlimmste Zeit war, als ich nicht mehr an den Film glaubte. Als ich das Gefühl hatte, der eigentliche Film steckt im Material, das ich zurückgelassen habe. Ich musste mich ja trennen, jeden Tag, von tollen Szenen, tollem Material. Ich hatte keinen Kompass mehr und wäre am liebsten weggelaufen. Aber Aufhören war keine Option – ich hatte schon viel zu viel reingesteckt. Eine verdammt schreckliche Zeit.
Antagonisten von Tschechow und Dostojewski
Wie wir einmal (fast) berühmt wurden“ verbindet auch Subkultur mit Hochkultur. Hast du das beabsichtigt? Was hat dich daran gereizt?
Ja, das war auch schon in der Linsenstraße so, Kreuzberger Comedie Humaine habe ich das immer genannt: Kreuzberg trifft auf Beckett, Brecht, Balzac und Wagner. Daraus bezieht die Serie ihren Humor, weil die Fallhöhe zwischen Wollen und Können so hoch ist.

Hans-Jörg Berchtold und Viola Livera als Regisseur und Actrice des Schauplatz-Theaters im Graefekiez. (Foto: Augapfel Film)
Die Figuren aus der Linsenstraße waren für mich Antagonisten von Tschechow, Godot, Balzac, Dostojewski. Einen Unterschied zwischen Hoch- und Subkultur habe ich nie gemacht – im Gegenteil: Wenn eine schnaufende Konzertina Brahms Requiem spielt, da kommen mir die Tränen. Das klingt so jämmerlich und vergeblich, da kommt einfach kein artistischer Chor ran. „Linsenstraßen“-tauglich gemacht, gut oder nicht gut, das ist hier die Frage. Das Artistische an der Kunst hat mich sowieso nie interessiert, die Werkstattbühne war mir immer näher.
Die Zumutungen des Alltags…und Helden der Alleinsamkeit
Die „Linsenstraßen“-Figuren und ihre Darsteller, die ja halb fiktiv, halb echt waren, hatte ich damals als Träumer und Anarchisten bezeichnet: Jede/r hat auf ihre/seine Weise an den Gitterstäben eines zu engen Daseins gerüttelt, gegen die Zumutungen des Alltags rebelliert gegen eine enge, langweilige Realität. Keiner von uns hatte reale Vorbilder. Ein Journalist schrieb damals: „Sie wollen mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben!“ Das hat es ganz gut getroffen.
Der Chor als Gegenwelt zum Einzelkämpfer
Wie bist Du auf den Chor gekommen, ein starker Part der Hochkultur?
Als ich das Lied „Die Enthusiasten“ zum ersten Mal hörte, wusste ich sofort: Das ist das Lied zum Film! Da wusste ich noch nicht, dass der Text von Eduard Mörike ist. Eigentlich wollte ich, dass die Protagonisten das Lied zusammen singen – als Prolog, wie der Zirkusdirektor im Faust. Aber es hat einfach nicht geklappt, sie zusammenzubringen. Da kam mir die Idee mit dem Chor, zumal der Komponist Peter Schindler dort schon mal dirigiert hatte. Sowohl die Chorleiterin Anke Meyer als auch ein Teil der Leute waren einverstanden. Den Chor als Gegenwelt zum Einzelkämpfer, das fand ich spannend. Leute, die in einem Chor singen, haben andere Motive. Oder jeder am 3-Sparten-Theater kennt den Spruch: „Die hat es nicht als Solistin geschafft, jetzt ist sie im Chor gelandet“. All das schwingt mit, das fand ich reizvoll.
Es geht um ein gelungenes Schauspieler/-innen-Leben
Für wen ist „Wie wir einmal (fast) berühmt wurden“?

Wolf-Dirk Vogeley präsentiert sich enorm wandlungsfähig in „Wie wir einmal (fast) brühmt wurden“. Vom Frank-Walter Steinmeier Double bis hin zum ambitionierten Chart-Interpreten. (Foto: Augapfel Film)
Eigentlich dachte ich, der Film ist nur für ein spezielles Publikum. Jetzt denke ich, er ist für alle, die neugierig auf andere Menschen sind. Man muss sich auf sie einlassen. Es geht um Enthusiasmus, um das, was die Schauspieler antreibt, und letztendlich um ein gelungenes Leben. Welche Entscheidungen trifft man warum? Letztlich habe ich einen Film gemacht, wie ich ihn selbst gern sehen würde: Dieser Film hat kein Rezept, und die Leute, die zu Wort kommen, auch nicht. Wer schöne, erfolgreiche Menschen sehen will, die reich und berühmt sind und eine Million Follower haben, wird meinen Film sicher nicht mögen. Auf keinen Fall will ich: „Guckt mal hier, wie fleißig die sind – und verdienen doch nix. Kunst ist immer Risiko, und ein Künstler will nicht bemitleidet werden. Ein Künstler will Respekt für sein Werk. Ich habe mir während des Films immer Feedback geholt, von sehr unterschiedlichen Menschen. Aber es war nie ein/e junge/-r Schauspielschüler/in dabei! Das wäre mal interessant!
Interview: Berlin, Juni 2020