Über Priester, Vampire und Telefonsex
Das Munzinger-Archiv nannte ihn einst einen „heimlichen Weltstar“. Das ist natürlich Quatsch, deutete aber wohl darauf hin, dass Udo Kier vor allem ein Schauspieler ist, den man fast immer in Nebenrollen erlebt. In diesen prägt er aber die Filme ebenso entscheidend wie die Protagonisten, und er braucht kaum Dialoge, sondern nur wenige Blicke, um das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Auf jeden Fall ist Udo Kier (geb. 1944 in Köln) einer der wenigen deutschen Schauspielstars des internationalen Kinos. Ein Phänomen, das in Arthaus-Filmen (Rainer Werner Fassbinder, Gus van Sant, Lars von Trier) ebenso Zuhause ist wie in zweifelhaften Vampir- oder Trash-Movies. So eiskalt er auf der Leinwand zuweilen erscheint, so angenehm und zuvorkommend ist Udo Kier im Gespräch.
Bernd Sobolla: Udo Kier, viele Schauspieler werden deshalb Schauspieler, weil ihre Eltern das auch sind oder waren. Das ist bei ihnen nicht so. Gab es eine Initialzündung für ihre Entscheidung, die Schauspielkarriere einzuschlagen? Eigentlich wollten Sie doch Modell werden und den Laufsteg erobern.
Udo Kier: Also Modell war ich nie. Ich hatte eine kaufmännische Lehre in Köln absolviert. Da verdient man aber sehr wenig Geld. Dann las ich in der Zeitung, dass irgendjemand für Herrenmode – heute heißen sie Modells, früher hießen sie Dressmen – suchen. Da bin ich hin. Das habe ich aber nur gemacht, um Geld zu verdienen. Ich bin ich nur einmal über den Laufsteg gegangen. Ich wurde am Ende des Krieges geboren, und meine Mutter wollte natürlich, dass ich was „Anständiges“ lerne. Eigentlich war es ihr Wunsch, dass ich eine kaufmännische Lehre machte. Um mehr Geld zu verdienen, ging ich zu Ford und arbeitete am Fließband. Dann sparte ich ein bisschen Geld und ging nach London, um Englisch zu lernen. Denn ich wollte eigentlich Auslandskorrespondent für eine größere Firma werden, um reisen zu können. In London besuchte ich eine Sprachschule. Eine italienische Freundin aus meiner Klasse hatte Kontakt zur Filmbranche und erzählte mir, dass die Produktionsfirma, für die sie arbeitete, Schauspieler suchte. Also ging ich hin und bekam tatsächliche eine Rolle für einen Film, der hieß „Straße nach St. Tropez“. Mein erster Film! Das fand ich super faszinierend: Die Aufnahmen, die Technik, das Gewusel. Und ich dachte: „Wunderbar, wenn du davon leben kannst, dann versuch das!“ Aber ich wollte nie zur Schauspielschule gehen und das große Drama spielen, sondern einfach nur probieren, ob es funktioniert. Ich wollte nicht, wie viele andere Schauspieler, irgendwo hinter einer Bar arbeiten, vergilbte Zeitung unter der Theke horten und sagen: „Ach, übrigens! Ich bin eigentlich nicht Barmann, sondern Schauspieler, guck mal hier!“ Ich hatte einfach viel Glück und habe dann einen Film nach dem anderen gemacht, habe Fassbinder kennen gelernt…
Darf ich sie unterbrechen? Ihre erst Hauptrolle hatten Sie 1968 in „Schamlos“. Aber ab wann hatten sie das Gefühl, jetzt bin ich drin?
1968 war ein wichtiges Jahr. Da war ja nicht nur ich schamlos, da waren viele schamlos. In meiner Londoner Zeit knüpfte ich Kontakte zu 20th Century Fox, die hatten ein Büro in München. Dadurch kam ich dann zur Rolle in „Schamlos“ (Regie: Eduard Saller). In dem Film spielte ich übrigens zusammen mit Rolf Eden. Anschließend kam ein Film, der später in der ganzen Welt viele Liebhaber fand. Das war „Hexen bis aufs Blut gequält“. Ein Hexenverfolgungsfilm von Michael Armstrong und Adrian Hofen, der auch in Österreich gedreht wurde, in Mauterndorf. Und dann ging es immer so weiter.
Sie hatten 1973 Kontakt mit Andy Warhol und spielten in „Andy Warhols Frankenstein“. Das war für Sie wahrscheinlich der internationale Durchbruch und zudem der Durchbruch als Bösewicht, oder?
Ich glaube schon. Es ist ja so: Die Menschen lieben das Böse. Und Vampire sind ja so wieso sehr beliebt, weil Vampire zudem auch noch sehr erotisch sind. Die beißen den Menschen in den Hals und nicht in den Fuß. Der „Kuss“ des Vampirs ist wunderbar erotisch. Und diese Filme waren zweifelsohne wichtig für mich. Allerdings habe ich das damals gar nicht so wahrgenommen. Ich habe immer in meinem Leben versucht, den Erfolg, den ich in der Filmbranche hatte, nicht besonders wahrzunehmen. Denn Erfolg kann auch verändern. Und ich bin bis zum heutigen Tage der Gleiche geblieben – nur ein bisschen älter. Aber ich arbeite immer noch im Garten, streiche immer noch meine Wände und habe drei Hunde. Das ist alles wunderbar.
Es gibt viele Vampirfilme, in denen sie mitspielen. Haben Sie sich diese Rollen eigentlich ausgesucht, oder sind diese eher an Sie herangetragen worden?
Nein, dafür gibt es ja Agenturen. Und die wissen besser Bescheid als ich. Klar, wenn du einen Vampirfilm machst, bist du immer der Vampir. Sean Connery war der beste James Bond und blieb für einige Jahre James Bond. Danach war es schwierig für ihn, einen Film zu spielen, wo er als Schauspieler seriös arbeiten konnte. Es gab zum Beispiel einen Film mit ihm, der hieß „The Hill“. Und er hatte es ganz schwer, von der Presse als ernsthafter Schauspieler und nicht als James Bond anerkannt zu werden. Für mich war das einfach. Ich habe auch erotische Filme gemacht, „Geschichte der O“ (1975) und so. Als ich dann anfing, Vampirfilme zu drehen und die erfolgreich liefen, hat sich das wiederholt.
Lassen Sie uns über Fassbinder sprechen: Sie haben fünf Filme mit ihm gedreht, Klassiker des Deutschen Films. Das war sicher eine etwas andere Welt: Kein Vampir, kein Frankenstein, kein Mörder, sondern eher Charaktere fürs Autorenkino. Welchen Stellenwert hatte Fassbinder für Sie?
Fassbinder und ich hatten uns in einer Kneipe in Köln gelernt. Ich glaube, er war 16 Jahre alt und ich 17 (ca. 1960). Später, als ich in London lebte, habe ich dann in der Zeitung von ihm gelesen: Da sei dieser neue deutsche Regisseur, ein Genie oder Säufer… oder was man ebenso schreibt. Und dann haben wir uns in München getroffen und haben uns unterhalten. Damit begann unsere Zusammenarbeit. Unser erster Film war „Bolwieser“ (1976/77). Fortan habe ich fast in jedem seiner Filme mitgespielt. Wenn keine Rolle für mich da war, habe ich Regieassistenz gemacht oder die Ausstattung übernommen, wie bei „Lola“. Fassbinder war sehr wichtig für mich. Heute ist es Lars von Trier, mit dem ich neun Filme (zehn!) gedreht habe. Und dann gab es natürlich noch andere Stationen. Eine davon war Christoph Schlingensief. Für Christoph habe ich in zehn Filmen vor der Kamera gestanden. Wenn man regelmäßig mit einem Regisseur zusammenarbeitet, dann kennt man sich gut, und das ganze Herantasten fällt weg. Das ist sehr angenehm. Es gibt aber auch Regisseure, mit denen würde ich nicht mehr drehen. Da möchte ich aber keine Namen nennen.
Der Sprung nach Hollywood kam um 1990 herum. Entsprach das Ihrer Sehnsucht, im Zentrum der Filmwelt zu stehen?
Nein, das lief anders: Ich war in Berlin zu den Filmfestspielen eingeladen und Gus van Sant stellte hier seinen ersten Film vor, den er selbst, ich glaube, für 20.000 Euro gedreht hatte, „Mala Noche“ (1985). Er lernte mich kennen, erzählte mir, dass er meine Arbeit gut finde und dass er einen Film mit Keanu Reeves und River Phoenix machen würde, „My private Idaho“. Da gäbe es eine Rolle für mich, Hans. In Amerika heißt man als Deutscher im Film meistens Hans. Also schickte er mir das Drehbuch. Und ich bin ihm heute noch dankbar dafür. Denn er musste mir die Arbeitserlaubnis beschaffen und die Social Security Number. Damit war ich im System aufgenommen. Dann bin ich in die USA gegangen, drehte diesen Film mit ihm in Portland und wollte anschließend wieder zurückfahren. Während der Dreharbeiten wohne ich bei einer Freundin, die Drehbücher schrieb. Und die fragte mich: „Warum bleibst du nicht hier?“ Eigentlich hatte ich schon die Koffer gepackt. Aber nach drei Gläsern Rotwein stimmte ich zu. Ich kaufte mir einen VW, ganz deutsch, einen knallroten Käfer und mietet eine kleine Wohnung. Das war etwa 1992. Und heute bin ich immer noch da. „My private Idaho“ wurde u.a. wegen River Phoenix und Gus van Sant ein Kultfilm. Heute ist Gus ein berühmter Regisseur, der mit berühmten Schauspielern arbeitet. Und ich arbeite überall: in Deutschland, in den USA, England oder Rumänien. Dort stand ich zum Beispiel mit Ben Kingsley und Geraldine Chaplin für „Terminator 3“ vor der Kamera.
Sie haben über 180 Filme gedreht. Gibt es einen Lieblingsfilm oder eine Lieblingsrolle darunter?
Nein, das wäre ja schade. Ich habe viele Lieblingsrollen. Viele Filme, an die ich mich gerne erinnere. Man erinnert sich ja im Grund genommen an Filme, die beruflich, menschlich oder karrieremäßig etwas bei einem selbst verändert haben. Das war natürlich „Dracula“ und „Frankenstein“ oder „Geschichte der O“, letzter, weil er zu seiner Zeit der berühmteste Erotikfilm war. Oder Fassbinder-Filme oder Schlingensief-Filme – das waren wunderschöne Zeiten. Nicht zu vergessen die Filme mit Lars von Trier. Also da gibt es eine ganze Menge. Es wäre schade, wenn ich da einen aussuchen würde…
Was für mich nicht ganz verständlich ist, wie Sie es schaffen, einerseits mit Autorenfilmern wie Rainer Werner Fassbinder, Lars von Trier oder Gus van Sant zu arbeiten, und andererseits aber auch vorbehaltlos, so scheint es jedenfalls, ein Gemetzel wie „Blade“ drehen, banales Zeug wie „Barb Wire“ oder diverse Computerspiele-Verfilmungen machen.
Das Finanzielle spielt ja auch eine Rolle. Ich mache die Filme ja nicht umsonst. Ich habe mir zum Beispiel eine Bücherei in Palm Springs gekauft, und da braucht man Geld für. Es gibt Filme, die ich normalerweise nicht hätte gemacht. Aber Geld ist auch wichtig. Ohne Geld geht es halt nicht.
Sie haben mindestens dreimal einen Regisseur in einem Film gespielt: In „Dog Daze“, „Ende der Gewalt“ und „Even Cowgirls get the blues“. Könnten Sie auch vorstellen, als echter Regisseur zu arbeiten?
Ja, aber nur so nebenbei. Aber ich habe kein Bedürfnis, Regisseur zu werden. Ich habe übrigens einen Film, einen Kurzfilm gedreht. Der heißt „The last trip to Harrisburg“. Darin spiele ich einen US-Soldaten und eine Frau, die sich gegenüber sitzen. Ich spiele beide Rollen. Und Fassbinder hat sie synchronisiert. Dann habe ich angefangen, einen Dogma-Film zu drehen. Also die Bewegung, die Lars von Trier ins Leben mitbegründete. Dogma heißt eigentlich nur, einen Film mit natürlichem Licht, ohne Gewalt und Musik zu machen. Also Musik darf in der Postproduktion nicht untergelegt werden, sondern nur eingesetzt werden, wenn man sie am Set hört. Also Kino pur.
Wovon wird der Film handeln? Ist er noch in Planung?
Ich habe den Film teilweise schon gedreht. Das ist ein Film über Transsexuelle, die im Rollstuhl sitzen und vom Telefonsex leben.
Klingt interessant! Würden Sie auch mal gerne eine normale Rolle übernehmen? Zum Beispiel ein verheirateter Kölner Familienvater, Elektriker, größtes Problem: Pubertätskrise der Tochter?
Ja, warum nicht? Wenn die Mitspieler gut sind, das auch mit Leichtigkeit annehmen und nicht denken, sie würden den Bundesfilmpreis dafür bekommen! Wunderbar! Ich habe zum Beispiel auch „Wilde Engel“ (2005) gedreht. Das ist eine Anlehnung an Charlies Engel. Das geht es um drei wunderschöne Frauen. Und ich bin Richard, sitze im Rollstuhl und habe sehr viel Geld. Und dieser Richard ist ein ganz normaler Mann. Also so was mache ich auch. Andererseits… gibt es in dem Film auch eine Menge Action und so. Aber ich mache auch Kinderfilme.
Aber da sind Sie fast nie der liebe Papi, sondern meist der Böse. Außerdem sieht man sie viel öfter als seltsamer Priester, unheimlicher Mönch oder Despot der Unterwelt.
Den letzten Mönch, den ich gespielt habe („BloodRayne“, 2004), der war, glaube ich, ganz normal. Der wird im 18. Jahrhundert vom Teufel befallen. Aus seinem Körper kommt eine Hand, die das Gesicht herunter reißt… Priester, das ist doch wunderbar, und sie tragen so tolle Kostüme – meistens schwarz. Das passt dann wieder zum Vampir. Priester zu spielen, und dann etwas Böses zu machen, das ist großartig!
Das Gespräch von 2004 am Rande der Berlinale statt.