Raimund Pretzel – Der Mann, der Sebastian Haffner wurde

Exposé für das Drehbuch:

„Germany: Jekyll & Hyde“

Raimund Pretzel, der Mann, der Sebastian Haffner wurde

© Bernd Sobolla

  „Ich habe in meinem Leben drei bedeutende Menschen gekannt: Winston Churchill, Charles de Gaulle und Sebastian Haffner.“

David Astor (ehem. Chefredakteur und Hrsg. „The Observer“)

Sebastian Haffner: Schon seit langer Zeit gilt Sebastian Haffner als einer der größten deutschen Publizisten des 20. Jahrhunderts. Seine politischen Kommentare, Geschichtsbücher und Essays werden noch heute, Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen, gelesen und diskutiert. Haffner ist gleichermaßen berühmt für seine Tiefe, seine Klarheit, seine ungewöhnliche Art, gesellschaftliche Probleme zu analysieren, und nicht zuletzt für seine Visionen. Als 2000 posthum sein erstes, aber bis dato unbekanntes Buch „Geschichte eines Deutschen – Erinnerungen 1914 – 1933“ veröffentlicht wurde, lasen sich die Rezensionen wie Jubelszenarien. Im Herbst 2001 wurde die erste Biographie über Sebastian Haffner publiziert; und auch sie zog ein großes Presseecho nach sich.

Wendepunkt: Das Buch „Germany: Jekyll & Hyde“ schrieb Haffner 1939-40 in England. Es wurde dort im Frühjahr 1940 veröffentlicht und ist der Wendepunkt in seinem Leben. Es war sein erstes politisches Werk. Zuvor hatte er vor allem über Mode, Musik und Unterhaltung geschrieben. Mit diesem Buch wurde er, der ja eigentlich Raimund Pretzel hieß, zu Sebastian Haffner. Und „Jekyll & Hyde“ war und ist noch immer eine der brillantesten Gesellschaftsanalysen, die je über das Dritte Reich geschrieben wurden.

Synopsis: Aus dem eher unpolitischen Journalisten Raimund Pretzel, einem Dandy, der im Berlin der 1930er Jahre vor allem über Mode und Unterhaltung schreibt, und dem die Nazis vor allem ein ästhetisches Problem sind, wird der leidenschaftliche politische Publizist Sebastian Haffner. Und das Buch ist sein persönlicher Widerstand gegen das Naziregime. Mit der Veröffentlichung von „Germany: Jekyll & Hyde“ will Haffner den Engländern den deutschen Nationalcharakter klar machen, will ihnen die Zwecklosigkeit ihrer bisherigen Appeasement-Politik verdeutlichen. Und sie statt dessen bestärken, einen entschlossenen, zielgerichteten Krieg gegen Deutschland zu führen.

Inhalt

Raimund Pretzel lebt als wacher, aufmerksamer Geist im Berliner Intellektuellenmilieu der 1930er Jahre. Schriftsteller wie Erich Kästner, Peter Huchel, Günter Eich, Horst Lange und Oda Schaefer zählen zu seinen Freunden. Sein Geld verdient Pretzel teils als freier Autor für die Vossische Zeitung, teils als Anwalt. Mit politischen Analysen, Aussagen oder Beiträgen fiel er bislang nicht auf, gleichwohl gehört er zum Kreis der Nazigegner. Finanziell einigermaßen abgesichert, lässt sich Raimund Pretzel als Dandy durch das Berlin der frühen Nazi-Jahre treiben. Doch schon bald nimmt sein bislang sorgenfreies Leben eine Wendung. Die Vossische Zeitung muss auf Betreiben von Goebbels ihr Erscheinen einstellen, und seine Arbeit als Anwalt in einem immer morbideren Justizsystem kann er auf Dauer nicht mehr ertragen. Durch Vermittlung seines Ex-Kollegen Harald Landry an dessen Ex-Frau Erika bekommt Pretzel eine Stelle als Boulevard-Journalist bei der „Neuen Modenschau“, in der er über wenig Verhängnisvolles wie Mode und Unterhaltung schreibt. Erika und Raimund verlieben sich und sind schon bald ein Paar. Doch die Zeiten werden härter. Erika, die bereits ein Kind aus der Ehe mit Harald Landry hat, wird von Raimund schwanger. Sie sieht sich als Jüdin bedroht und will emigrieren. Am besten nach England, wo ihr Bruder Kurt lebt. Raimund und Harald Landry befürworten den Plan und wollen ebenfalls raus aus Deutschland. Nach mehreren Anläufen erhält Erika ein Visum, um ihren Bruder zu besuchen. Raimund gelingt die Flucht mit einem fingierten Rechercheauftrag für eine Reisereportage in England. Und auch Harald Landry gelingt die Flucht.

In England (Cambridge) angekommen heiraten Erika und Raimund. Sie beziehen ein kleines Haus, das ihnen Erikas Bruder Kurt besorgt und auch Harald Landry taucht auf. Raimund begibt sich auf Arbeitssuche. Aber was kann ein Journalist deutscher Zunge schon im englischen Sprachraum bewirken? Als Jurist reichen weder seine Sprachkenntnisse noch seine Ausbildung. Er versucht sich als Pressefotograf, ist aber völlig ungeeignet dafür. Auch eine Bewerbung beim Auslandsservice der BBC scheitert. So lebt die Familie von den bescheidenen Ersparnissen und Raimund  arbeitet  – mehr für sich – an einem Tagebuch, das seine Erfahrungen in den letzten Jahren in Deutschland beinhalten soll (Dieses Buch ist im Jahr 2000 posthum unter dem Titel „Geschichte eines Deutschen“ erschienen). Und er verfolgt die Politik Englands.

Raimund ist entsetzt darüber, dass die Engländer unter Premierminister Neville Chamberlain Hitlers Expansionspolitik tatenlos hinnehmen, dass sie gar das Münchener Abkommen (das Sudetenland wird Hitler zugesprochen) unterzeichnen, dass niemand sieht – mit Ausnahme von Winston Churchill –, was sich auf dem Kontinent zusammenbraut. Doch auch Raimunds Lage wird immer prekärer. Er findet keine Arbeit, die Ersparnisse sind inzwischen aufgebraucht, und auch Kurt kann seine Schwester und ihn nicht länger unterstützen. Dann wird ihr Sohn Oliver geboren. Deutschland erlebt die Reichkristallnacht. Und Raimund wird zum Home Office zitiert. Sein Visum (ausgestellt für die Dauer seiner fiktiven Recherche) ist längst abgelaufen und schon mehrfach verlängert worden. Mit Hilfe einer Bekannten gelingt es ihm, eine erneute, aber mit Sicherheit die letzte Verlängerung zu bekommen.

In dieser Situation marschiert Hitler in Polen ein, der 2. Weltkrieg bricht aus. Aber Chamberlain kann sich noch immer nicht entschließen, seine Beschwichtigungspolitik aufzugeben. Am 3. September erklären England und Frankreich zwar Deutschland den Krieg. Aber dieser Erklärung folgen kaum Taten. Selbst das Fußvolk an der Speakers Corner fragt sich, warum es sich mit dem Kontinent befassen solle. Raimund weiß, dass er jetzt handeln muss, dass er die Engländer wachrütteln muss. Er gibt sein Tagebuch auf und beginnt stattdessen seine Arbeit an „Germany: Jekyll & Hyde“ – eine schonungslose Analyse der Deutschen im Allgemeinen, der Nationalsozialisten im Konkreten und vor allem Hitlers. Das Buch soll für die Briten Kriegsermutigung und Kriegsanleitung sein. Darin teilt er die deutsche Gesellschaft auf in: Hitler, die Naziführer, die Nazis, die loyale Bevölkerung, die illoyale Bevölkerung, die Opposition, die Emigranten und die Möglichkeiten. An einer Stelle über die „Illoyale Bevölkerung“ heißt es:

… den Verzicht auf Persönlichkeit, Religion, Privatleben und Zivilisation betrachten die loyalen Deutschen als patriotisches Opfer. Die Nazis wollen den Krieg gewinnen, weil es ihr Krieg ist. Die loyalen Deutschen möchten ihn gewinnen, obwohl es nicht ihr Krieg ist, weil sie es für richtig halten, dem Vaterland den Sieg zu wünschen. Sie sind zwiespältig, unsicher und von quälenden Zweifeln erfüllt. Diese Leute sind die unvernünftigsten Menschen der Welt. Ihre Denkweise ist erstaunlich konfus – eine Mischung aus Idealismus und Gerissenheit, aus Misstrauen und Naivität, aus Gier und Opferbereitschaft, aus Grausamkeit und Sentimentalität, aus Klugheit und Dummheit, aus Harmlosigkeit und Bosheit. Diese Deutschen führen ein Doppelleben, ein Doppelleben wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Fieberhaft schreibt Raimund jede Nacht, während er tagsüber versucht, einen Verlag zu finden.  Nach vielen Ablehnungen findet er Frederic Warburg, ein noch junger, aber enthusiastischer Verleger, der an Raimund glaubt. Inzwischen ist Erika wieder schwanger, doch zugleich verschlechtert sich die Beziehung zwischen ihr und Raimund. Harald Landry kommt auffallend häufig zu ihnen nach Hause. Er will eine Spielzeugfabrik aufbauen und Erika als Buchhalterin einstellen. Sehr zum Missfallen von Raimund.

Dann überschlagen sich die Ereignisse: Raimund und Erika werden von der Polizei zu einer Anhörung vorgeladen, einem so genannten Tribunal. Eine Prozedur, der sich nach Kriegsbeginn alle Ausländer unterziehen müssen. Während Erika als Jüdin keine Probleme bekommt, wird Raimund als möglicher Spion klassifiziert. Seine Recherchezeit ist um ein Vielfaches überschritten, er wird in Deutschland weder rassisch noch politisch verfolgt, und die Heirat mit Erika, die erst in England stattfand, wird ihm als Scheinheirat ausgelegt. Raimund wird abgeführt, auf einen LKW mit vielen anderen verladen. Erika läuft dem LKW noch schreiend mit den Kindern hinterher. Doch Raimund kommt ins Internierungslager nach Seaton. Erika setzt sich mit Francis Warburg in Verbindung, der sich für Raimund beim Innenministerium einsetzt. Aber die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. In Seaton angekommen wird Raimund mit dem Lageralltag vertraut gemacht. Das Lager ist im Großen und Ganzen zweigeteilt. Auf der einen Seite sind die typischen Emigranten: Künstler, Schriftsteller, Politiker, linke Intellektuelle. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Nazis, hauptsächlich Seeleute, die sich bei Kriegsausbruch in englischen Häfen befanden. Im Lager erfährt Raimund, dass seine Tochter geboren wurde. Dort schreibt er (verbotenerweise) auch das Buch unter großen Schwierigkeiten zu Ende. Doch dann wird seine Arbeit entdeckt…

Siehe Intro (die ersten fünf Bilder)

Noch in der Nacht wird Raimund vom Kommandanten des Lagers verhört. Es gelingt ihm, den Kommandanten davon zu überzeugen, das Manuskript nicht ans Innenministerium zu schicken, sondern direkt an den Verleger Frederic Warburg nach London, der sich sofort an den Druck macht. „Germany: Jekyll & Hyde“ erscheint im April/Mai 1940 unter dem Pseudonym Sebastian Haffner. Raimund will damit seine Familie in Deutschland schützen. Den Namen Haffner wählt er in Anlehnung an Mozarts Haffner-Sinfonie, seiner Lieblingsmusik. Und für Sebastian entscheidet er sich, weil der Name deutsch klingen soll. Kaum sind die ersten Exemplare fertig, schickt Warburg sie an Journalisten, Gewerkschaftsbosse, Parlamentarier, Banker und andere Entscheidungsträger. Und er veranstaltet zahlreiche öffentliche Lesungen vor wichtigen Persönlichkeiten. Das Interesse an dem Buch ist außerordentlich groß. Es macht Raimund Pretzel zu dem Publizisten, als der er wichtig und populär wird – Sebastian Haffner.

Derweil muss Chamberlain im Parlament wegen seiner verfehlten Kriegspolitik die Vertrauensfrage stellen und tritt anschließend zurück. King Georg ernennt als neuen Premierminister einer Notstandsregierung Winston Churchill. Churchill hält seine berühmte Antrittsrede: … »Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß«. Sie fragen, was unsere Politik ist; ich will sagen: »Es ist Krieg zu führen, … mit all unserer Macht und mit all der Kraft, die Gott uns geben kann, und Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Gewaltherrschaft. …« Das ist unsere Politik.

Als Pflichtlektüre gibt Churchill seinen Kabinettsmitgliedern „Germany: Jekyll & Hyde“ auf. Kurze Zeit später gibt es im Parlament Anfragen, wie es sein kann, dass ein Autor, der Großbritannien in dieser Form unterstützt, zugleich in einem Internierungslager sitzt. Während die Deutschen in Paris einmarschieren, lösen die Briten das Internierungslager Seaton auf. Ein Teil der Gefangenen wird auf die Andora Star gebracht, ein großes Schiff, das nach Kanada fährt. Ein kleineres Schiff steuert mit der anderen Hälfte der Gefangenen die Isle of Man an. Nur wenige Stunden nachdem die Andora Star den Hafen von Liverpool verlässt, wird sie von einem deutschen U-Boot torpediert und zerstört. Über 700 Menschen sterben dabei. Haffner befindet sich auf dem anderen Boot. Zur gleichen Zeit setzt sich im englischen Parlament ein Abgeordneter für Sebastian Haffner ein. Und tatsächlich wird er jetzt freigelassen. Haffner fährt nach London, wo er seine Familie wieder trifft. Am Tag seiner Ankunft, fallen die ersten Bomben auf London. Er geht durch die Straßen, um sich Hitlers „Leistung“ anzusehen. Dort inmitten von Trümmern und Rauch sieht er, wie ein Reporter Winston Churchill interviewt. Haffner hebt seinen Sohn hoch, um diesem einen „richtigen Führer“ zu zeigen. Leute, die neben ihm stehen, hören wie er deutsch redet und greifen ihn an: „Wie können Sie es wagen, sich als Deutscher hier blicken zu lassen?“ Haffner antwortet selbstbewusst, aber mehr zu sich selbst: „Ja, ich bin Deutscher! … Ich bin nun mal Deutscher!“

 

AUFBLENDE

England, Februar 1940

  1. AUSSEN / NACHT / SEATON

Riesige Wellen peitschen gegen die Küste der südenglischen Küstenstadt Seaton. Ein einsamer Fußgänger läuft auf der Straße, die den Strand vom Warner´s Camp trennt. Er ist in einen dunklen Regenanzug gekleidet und stemmt sich verbissen gegen Wind und Regen. Auf der anderen Straßenseite liegt ein rechteckiges (etwa 100 x 50 Meter) Internierungslager: Über dem Haupteingang hängt ein Schild: „Warner´s Camp / Stop! / Entry only for RAF-Forces“. Rechts und links zwei Doppelreihen mit kleinen Holzbarackenhäusern, dazwischen ein Appellplatz. In einer Art Industriegebäude an der Stirnseite befindet sich die Kommandantur. Das ganze Lager ist mit zwei Reihen Stacheldraht umgeben. An jeder Ecke steht ein Wachturm. Das Ganze erinnert an ein Konzentrationslager. Zwischen den Stacheldrahtreihen drehen zwei Wachmänner ihre Runde, die sich gerade einem der Wachtürme nähern.

WACHMANN: 

Number one post?

WACHPOSTEN: 

(aus dem WachturmAll is well!

 

2. INNEN / NACHT / SEATON / WARNER´s CAMP / HOLZHÜTTE

Eine der vielen einzelnen Holzhütten. In dem etwa 20 Quadratmeter großen Raum stehen zwei Betten übereinander und ein einzelnes, ein Metallspind mit drei Türen und ein winziger Tisch, der unter dem kleinen Fenster steht. Durch das Fenster sieht man hinaus auf den nassen Appellplatz. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Papier, etwa 30-40 Seiten. Außerdem steht dort eine brennende Kerze. Raimund Pretzel sitzt (unrasiert und übermüdet) vor dem Tisch und schreibt. Wir hören seine Gedanken.

RAIMUND (OFF)

Die Opposition: … Die Geschichte lehrt, dass die illegalen Parteien keine andere politische Methode kennen als den Terrorismus. Nur so bleiben sie wirksam und gefährlich, nur so zwingen sie ihre Unterdrücker, die Unterdrückung zu vermindern. Es ist keine verlockende Aussicht, eines Tages hingerichtet zu werden, weil man das Verbrechen begangen hat, sich wöchentlich in einem Hinterzimmer zu treffen, um Marx zu lesen und Revolutionslyrik zu deklamieren…

 

3. AUSSEN / NACHT / SEATON / WARNER´S CAMP

Auf der anderen Seite des Appellplatzes steht zwischen zwei Hütten eine große Gestalt, die direkt auf die Hütte von Raimund schaut. Es ist die einzige Hütte in der ganzen Reihe, deren Fenster (wenn auch nur leicht) vom Schein der Kerze erleuchtet ist. Wir sehen das Gesicht des Beobachters, grobschlächtig, mit einer Narbe auf der rechten Wange. Es ist der Nazi-Seemann, der uns später wieder begegnen wird. Er hat genug gesehen und geht nun in Richtung Kommandantur. Während wir ihn beobachten, hören wir weiterhin Raimunds Gedanken im Off:

 RAIMUND (OFF)

… aber das ist alles, was die existierenden illegalen deutschen Parteien ihren Anhängern zu bieten haben. Vor allem die Kommunisten haben einen schrecklichen Blutzoll entrichtet. Grund für diese Hinrichtung sind „große Aktionen“: die Verteilung von Flugblättern, die Beseitigung einer Hitlerbüste hier und das Zerschlagen einer Schaufensterscheibe da. Gegenüber einem despotischen Regime jedoch gibt es für verbotene Parteien nur eine Möglichkeit: Terrorismus. Aber sie alle scheuen vor politischen Morden zurück. Daher ist der illegale Kampf in Deutschland bedeutungslos. Immerhin: Er produziert Märtyrer…

Der Wind wird noch stärker. Der Appellhofplatz ist übersät von Pfützen in die die Regentropfen klatschen. Das Licht eines Scheinwerfers fährt über den Platz. Weit im Hintergrund hört man das rituelle Abrufen der Wachposten.

 WACHMANN

Number two post?

WACHPOSTEN

(aus dem Wachturm) All is well!

Der Nazi-Seemann steht jetzt an der offenen Tür der Kommandantur und spricht mit einem der Offiziere. Wir sind zu weit entfernt, um die Inhalte des Gesprächs zu hören. Dann verschwindet der Informant. Der Offizier an der Tür gibt zwei anderen Soldaten ein Zeichen, ihm zu folgen.

 

4. INNEN / NACHT / SEATON / WARNER´s CAMP / HOLZHÜTTE

Raimund sitzt noch am Schreibtisch. Jetzt hören wir das Rufen der Wachposten noch gedämpfter.

WACHMANN

Number three post?

WACHPOSTEN

(aus dem Wachturm) All is well!

 RAIMUND (OFF)

… Ein Märtyrertod ist jedoch nur dann eine politische Waffe, wenn er sich den Menschen einprägt und in Mythen Ausdruck findet. Märtyrertum ohne Publizität ist ein vergebliches Märtyrertum, und daher sorgen die Nazis dafür, dass es keine Schauprozesse mehr gibt, sondern nur noch die gepolsterten Doppeltüren des Volksgerichtshofes.

Raimund legt die letzte Seite auf den Stapel. Packt alles zusammen in einen Umschlag, und schreibt auf diesen: „Francis Warburg, Editor…“ Plötzlich wird die Tür aufgetreten, die drei Wachmänner stürmen in den Raum, einer mit einer Taschenlampe, die anderen beiden halten jeweils ein Maschinengewehr im Anschlag. Der Strahl der Taschenlampe zeigt nacheinander die beiden Gesichter, der Männer, die bisher schliefen und die jetzt im Bett aufgeschreckt sitzen. Dann das entsetzte Gesicht von Raimund.

 

5. INNEN / NACHT / SEATON / WARNER´s CAMP / KOMMANDANTUR

Raimund sitzt zum Verhör vor dem Kommandanten. Eine Schreibtischlampe ist auf sein Gesicht gerichtet. Zwischen den beiden Männern ein leerer Tisch, auf den mit einem Knall Raimunds Manuskript landet. An der Wand hängt eine Uhr: Es ist vierzehn Minuten nach Mitternacht. Der Kommandant gibt den zwei Soldaten mit einem Kopfwink zu verstehen, dass sie den Raum verlassen sollen. Die Tür schließt sich mit einem Ruck. Ein Moment der Stille. Die beiden sind allein.

 KOMMANDANT

Nun, Mr. Pretzel, ich wusste, dass nicht alle der 500 Internierten hier Spione sind. Aber einige…

Er blickt auf das Skript, das auf dem Tisch liegt

…sind es wohl doch! Und wenn ich das hier morgen weiterreiche, ist der gemütliche Teil ihres Aufenthalts in Großbritannien wohl beendet.

 RAIMUND

(Mit geneigtem Kopf und leiser Stimme) Sir, ich glaube, … ich werde sie enttäuschen müssen.

KOMMANDANT

Wollen Sie behaupten, Sie arbeiten nicht für Hitler und kundschaften für ihn unser Land aus?

RAIMUND

(sucht nach den richtigen Worten) Ich schreibe nicht für, sondern über ihn,… und zwar für England. Auch wenn es vielleicht im ersten Moment nicht so aussieht. Und auch wenn das bis jetzt nur ein kleiner Verleger in London weiß.

Der Kommandant nimmt das Skript in die Hand, das aber in Deutsch geschrieben ist.

KOMMANDANT

(skeptisch) So!… Und… worum geht es in ihrem Werk?

RAIMUND

Um die Sinnlosigkeit der englischen Appeasement-Politik. Sie müssen endlich erkennen, wie es im Innern ihres Feindes aussieht und wie man ihm entgegen treten muss.

KOMMANDANT

Wenn sie es wissen, warum tun Sie es dann nicht selbst?

RAIMUND

Es ist ein bisschen komplizierter.

KOMMANDANT

Darüber wird wohl die Armeeführung entscheiden.

RAIMUND

(entsetzt, fast zu sich selbst) Nein, nein, bitte, nicht! Bitte bloß das nicht!!!

KOMMANDANT

Wollen Sie mich zum Narren halten? Was glauben sie, wer sie sind?

RAIMUND

Hören Sie, wenn Sie diese Seiten morgen übergeben, dann wird das Skript irgendwohin zur Übersetzung geschickt, nicht wahr?

KOMMANDANT

Ja!

RAIMUND

Die Übersetzung geht dann zusammen mit tausend anderen Akten, Vorgängen und Berichten ans Innenministerium?

KOMMANDANT

(nickt) Wahrscheinlich.

RAIMUND

Dann werden mehrere Mitglieder einer, sagen wir, „Kommission für Sonderfälle, Auffälligkeiten und Spionage“ das Ganze lesen und beurteilen. Sie wird einen Bericht schreiben, der an den Sicherheitsdienst geht. Der wiederum formuliert eine Empfehlung, die dann dem Innenministerium vorgelegt wird?

KOMMANDANT

Kann schon sein.

RAIMUND

Dann ist alles viel zu spät.

KOMMANDANT

Zu spät?

RAIMUND

Haben Sie schon einmal in ihrem Leben irgendetwas getan, was wirklich bedeutend war?

Der Kommandant zuckt unsicher mit den Schultern

KOMMANDANT

Wirklich bedeutend? … Wirklich bedeutend für wen?

RAIMUND

Egal… für Sie, Ihre Frau, Freunde, Bekannte, für ihr Land?…

Der Kommandant schaut nur irritiert, ob der seltsamen Frage.

… Wenn ich ihnen beweisen kann, dass das…

Er zeigt auf das Skript in der Tischmitte

…etwas wirklich Bedeutendes ist und nicht England schadet, sondern ihr Land unterstützt. Würden Sie es dann für mich morgen nach London schicken?

KOMMANDANT

Natürlich nicht. Sie sind wohl nicht bei Trost…

Er schüttelt mit dem Kopf, kramt nach seiner Pfeife und beginnt sie zu stopften.

… aber erzählen Sie ruhig, versuchen Sie mich zu überzeugen! Zeit haben wir ja. Von mir aus die ganze Nacht.

Er nimmt seine Streichhölzer und steckt sich seine Pfeife an. Aufblende in das Feuer von Streichholz und Pfeife….

 

Nach diesem Intro beginnt Raimunds Erzählung mit einer Rückblende…

 

DER VORSPANN BEGINNT

Musik: Haffner-Sinfonie setzt ein.

 

  1. INNEN / TAG / WOHNUNG DER FAMILIE PRETZEL

Eine Wohnung in Berlin-Lichterfelde, Tietzenweg 135. Eine Zigarette qualmt im Aschenbecher (eine Maus aus Messing) vor sich hin, der auf der Ablage eines ziemlich großen Spiegels steht. An der Wand hängt ein großes Foto von Thomas Mann, auf dem Bücherregal stehen viele juristische Werke. Der Schreibtisch ist mit Leder bezogen, ziemlich groß und hat Aufbauten. Er ist nicht besonders aufgeräumt: Sechs Papierhaufen sind zu sehen, zwei Bücher liegen offen herum, ein Füller, Briefe usw. Eine kleine weiße Büste von Johann Sebastian Bach sticht auf dem Schreibtisch hervor. Raimund – weißes Hemd, tolle Hose, tadellos gebügelt – macht sich vor dem Spiegel zurecht: Er bindet seine Krawatte, legt die Manschetten-Knöpfe an, nimmt noch einen Zug von der Zigarette und drückt sie dann aus. Er geht näher an den Spiegel, schaut, ob seine Rasur auch wirklich perfekt ist. Die Tür geht auf.

MUTTER

Raimund, dein Freund Karl hat angerufen. Er sagt, dass irgendwas Unter den Linden los ist. Er will sich mit dir und Erich um sieben vor der Universität treffen.

RAIMUND

Danke!

Die Mutter mustert Raimund etwas skeptisch von oben bis unten.

MUTTER

Er klang nicht so, als müsstest du deine besten Sachen anziehen.

RAIMUND

Erstens sind das nicht meine besten Sachen, Mutter! Und zum Zweiten sind die besten Sachen gerade gut genug für mich.

Raimund lacht und gibt seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn. Die Mutter lächelt.

MUTTER

Aufschneider!

Sie schüttelt den Kopf und verlässt das Zimmer. Die Tür geht zu. Raimund zieht sein Jackett an – es passt wie angegossen. Er streicht sich noch mal in den Spiegel blickend übers Haar. Dann will er gehen, hält aber an der Tür an. Er hat noch etwas vergessen – das Wichtigste. Aus einer Schublade zieht ein frisches Ziertaschentuch, das er in die äußere Brusttasche schiebt. Raimund lächelt zufrieden.

 

  1. AUSSEN / TAG / HAUS DER FAMILIE PRETZEL

Raimund schließt die Haustür und geht auf die Gartenpforte zu. Als er sieht, dass eine Nachbarin mit ihrem Kinderwagen auf das Haus zukommt, beschleunigt er seinen Schritt, um ihr die Gartenpforte aufzumachen.

NACHBARIN

Vielen Dank, Herr Pretzel!

RAIMUND

Es ist mir ein Vergnügen! …

Raimund lächelt seiner Nachbarin nach. Als sie schon fast im Haus ist und er bereits das Grundstück verlassen hat, ruft er ihr noch mal hinterher.

… ein Vergnügen!

  1. AUSSEN / NACHT / VOR DER FRIEDRICH-WILHELM-UNIVERSITÄT

Insert: 10. Mai 1933

Auf dem Opernplatz in Berlin-Mitte sind rund tausend Menschen versammelt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf das große Feuer vor ihnen gerichtet, in das Bücher geworfen werden. Stimmengemurmel, abfälliges Lachen. Von hinten kommen Raimund, Karl und Erich der Szenerie langsam näher. Aber es sind so viele Menschen auf dem Opernplatz, dass sie nicht viel sehen können. Karl entdeckt eine Laterne.

KARL

(zu Raimund und Erich)

Kommt, lasst uns hier rauf!

Die Laterne hat einen Vorsprung, auf dem sie mit ihren Füßen stehen können. Mit sicherem Abstand, aber dicht genug, um alles zu sehen, beobachten sie das Geschehen und hören Goebbels pathetische Stimme am Mikrophon, der vor einer großen Hakenkreuzfahne steht.

 GOEBBELS

Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky.

ZWEITER RUFER

Gegen Dekadenz und moralischen Verfall, für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.

Raimund stößt Erich leicht mit dem Ellenbogen an.

 RAIMUND

(flüstert)

Erich, ich glaube, du bist der einzige, der persönlich anwesend ist.

Kästner reagiert nicht weiter. Er starrt in die Flammen. Wortfetzen der Herumstehenden sind zu hören: „Weg mit dem Dreck“, „Recht so, macht Deutschland judenrein“… Weitere Bücher werden auf den bereits brennenden Haufen geworfen. Einige Herumstehende applaudieren. Raimund raucht, inhaliert den letzten Zug der Zigarette so stark, als wolle er einen tief im Innern sitzenden bitteren Geschmack überwinden. Dann schnipst er die Zigarette fort. Sie landet in dem Rest einer Pfütze, wo sie kurz zischt. Rauch steigt auf. Die drei haben genug gesehen und wenden sich ab.

 DER VORSPANN ENDET

 

9. AUSSEN / NACHT / UNTER DEN LINDEN BIS ZUM ALEXANDERPLATZ

Die drei laufen schweigend Unter den Linden entlang, am Zeughaus vorbei, an dem die Hakenkreuzfahnen wehen, in Richtung Alexanderplatz. Der Dom ist im Dunkeln kaum zu erkennen. Nur das Kreuz auf der Kuppel ist angeleuchtet. Erich schaut nach oben.

ERICH KÄSTNER

Jetzt weiß ich endlich, warum er nie etwas geschrieben hat.

Karl und Raimund versuchen zu lachen, aber sie schaffen es nicht. Plötzlich werden die drei von einem Bus überholt.

 ERICH KÄSTNER

Das ist meiner. Macht´s gut!

 Er rennt los.

 KARL

Du auch!

RAIMUND

Pass auf dich auf!

Erich erreicht den Bus und springt im Anfahren rauf. Karl und Raimund gehen weiter. Auf der Straße ist wenig los. Nur wenige Passanten begegnen ihnen. Vor dem S-Bahnhof Alexanderplatz steht ein Mann und verkauft heiße Maronen. Raimund kauft zwei Tütchen, reicht ein Tütchen Karl. Sie betreten den S-Bahnhof.

 

10. AUSSEN / NACHT / BAHNSTEIG / ALEXANDERPLATZ

Raimund und Karl stehen auf dem Bahnsteig, essen schweigend ihre Maronen und warten auf ihre Züge. Auf dem Bahnsteig sind außer ihnen nur wenige Passanten.

 RAIMUND

Kommst du am Donnerstag mit ins Kino?

KARL

Hm.

Zwei Züge fahren zur gleichen Zeit im Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig schreiten zwei SA-Männer langsam auf die beiden zu.

RAIMUND

Wird bestimmt lustiger. Verspreche ich dir.

KARL

Noch lustiger?

Die SA-Männer sind nur noch 2-3 Meter von den beiden entfernt. Raimund und Karl gehen in jeweils einen der beiden Züge, die fast zeitgleich die Türen schließen und in entgegengesetzte Richtungen losfahren.

 

11. INNEN / NACHT / S-BAHNZUG

Raimund wird durchs nächtliche Berlin geschüttelt. In der S-Bahn sieht alles ziemlich normal aus: Ein junges Pärchen strahlt sich Händchenhaltend an. Ein alter Mann ist eingeschlafen. Eine Mutter fährt ihr etwa vierjähriges Kind an, das Nase und Mund gegen die Fensterscheibe drückt.

MUTTER

„Jeh doch von de Scheibe weg. Det is allet dreckig hier!“

Ein Mann mit einem Vogelkäfig auf dem Schoß sitzt Raimund gegenüber: Der Vogel zwitschert aufgeregt. Die S-Bahn hält. Raimund sieht das Stationsschild: „Lichterfelde West“. Er steigt aus.

 

  1. INNEN / TAG / WOHNUNG DER FAMILIE PRETZEL

Das Berliner Zimmer ist vollgestellt mit alten Möbeln. In der Mitte steht ein großer, massiver Tisch, Bücherregale mit vielen Klassikern stehen an der Wand, ein Klavier ist nah am Erker platziert. Raimund steht neben dem Klavier, den Arm auf dem Klavier aufgestützt. Sein Vater steht im Erker am Fenster. Er blickt ernster Miene hinaus und raucht eine Zigarre.

 RAIMUND

Vater, ich weiß nicht, warum ich eigentlich noch mein zweites Staatsexamen  machen soll? Es ist doch sinnlos, sich in einem Unrechtsstaat der Rechtssprechung zu widmen.

Er schlägt stehend ein paar Tasten auf dem Klavier an.

 VATER

(nachdenklich)

Unrechtsstaat?… Mmh, ja.., mag sein. Aber willst du jetzt nach all den Mühen dein Jura-Studium aufgeben, weil dir die jetzige Regierung nicht gefällt? …. Mach dein Examen und schreib deine Doktorarbeit! Das dauert noch ein Jahr. Wer weiß, was dann ist. Außerdem schreibst du ja noch für die Vossische Zeitung. Anschließend stehen dir dann alle Wege offen.

Raimund blickt den Vater an, senkt den Kopf, schaut auf die Tasten, und schlägt wieder eine Taste leicht an.

RAIMUND

Was glaubst du? … Wie lange halten sie sich?

Vater:

Ich weiß nicht… Ich… ich denke, sie können viel Unheil anrichten. Aber lange regieren? Nein, der Spuk ist bald vorbei.

 Raimund schlägt eine zweite Taste an, diesmal heftig.

 

13. AUSSEN / TAG / KRUMME LANKE

Raimund sitzt mit der burschikosen, aber hübschen Carla in einem kleinen Ruderboot. Er stellt sich beim Rudern (gewollt) ungeschickt an, so dass das Boot nicht vorwärts kommt, sondern im Kreis fährt.

CARLA

Raimund, jetzt habe ich extra für dich das kleinste Gewässer Berlins ausgesucht, aber wie ich sehe…

Sie dreht sich um zur Uferseite, die hinter ihrem Rücken liegt: Es sind ca. 30 Meter

… werden wir vor Einbruch der Dunkelheit das rettende Ufer wohl nicht erreichen.

RAIMUND

Ich bin halt nicht für den Tag geschaffen, Carla. Außerdem ist das Boot zu groß, die Ruder sind zu klein, der See ist zu tief und du… viel zu süß. Warum sollte ich es da eilig haben?

Er lässt die Ruder los, kramt nach seinen Zigaretten und steckt sich eine an. Carla ergreift die Gelegenheit, übernimmt die Ruder und legt kräftig los. Das Boot ruckt, Raimund verliert das Gleichgewicht und landet im Wasser. Er taucht wieder auf, noch immer mit der Zigarette im Mund.

CARLA

(lacht)

Du vergisst, dass heutzutage Frauen die Ruder selber in die Hand nehmen können.

RAIMUND

Ich liebe selbstbewusste Frauen.

                    

 INNEN / TAG / VOSSISCHE ZEITUNG / GROSSRAUMBÜRO

Insert: 31. März 1934

Raimund tritt ins Großraumbüro der Redaktion ein, von wo aus wir durch eine Glaswand ins Büro des Chefredakteurs sehen können, der dort mit zwei leitenden Leuten (Verleger, Herausgeber) spricht. Einer der beiden lässt sich leblos in einen Schreibtischstuhl plumpsen. Der Chefredakteur hebt hilflos seine Arme. Im Großraumbüro sitzen sechs, sieben Journalisten an ihren Schreibtischen und Telefonen. Auf einer kleinen Anhöhe steht der Schreibtisch des Ressortleiters (Kultur und Wissenschaft) Harald Landry. Landry sitzt am Tisch und liest die Vossische Zeitung des Tages. Erich Kästner steht hinter ihm und blickt über seine Schulter. Die Seite mit Raimunds Artikel: „Das Leben der Fußgänger“ ist aufgeschlagen. Raimund geht mit einem Skript in der Hand auf Harald Landry zu.

RAIMUND

 (zu Harald und Erich)       

Guten Morgen, …

ERICH KÄSTNER

(freudig überrascht)

Hallo, Raimund!

RAIMUND

Hallo!

HARALD LANDRY

Wie geht’s dem deutschen Fußgänger denn so?

RAIMUND

Danke, gut! Ich wollte dem Chef das Skript für meinen nächsten Artikel bringen.

Er blickt durch die Glasscheibe, hinter der die drei Männer weiter debattieren.

Aber es sieht ja nicht so aus, als wenn er gerade Zeit hätte.

Erich Kästner streckt die Hand nach dem Skript aus.

ERICH KÄSTNER

Darf ich mal?

Raimund reicht ihm die Seiten. Wir sehen die Überschrift: „Heute 11.00-12.00 Uhr: Ehekrach!“ Erich Kästner grinst.

HARALD LANDRY

Hey, Leute, habt ihr Raimunds Glosse gelesen? Hört zu! …

Er fängt an, durchs Büro zu laufen, und liest vor. Alle hören zu. Raimund ist die Aufmerksamkeit ein bisschen peinlich.

 … „Der Fußgänger, der es auf sich nimmt, ungepanzert und waffenlos, auf eigenen Füßen … den Dschungel des Großstadtverkehrs zu durchqueren, darf die Urangst vor der morddrohenden Körperüberlegenheit der Ungetüme ebenso nachempfinden…

 

  1. INNEN / TAG / VOSSISCHES ZEITUNG / BÜRO DES CHEFREDAKTEURS

Der Chefredakteur und die zwei Leitenden sitzen betroffen zusammen. Der Chefredakteur hat sich in seinen Schreibtischstuhl zurückgelehnt und trommelt gleichzeitig mit einem Bleistift auf der Kante des Schreibtischs.

CHEFREDAKTEUR

Am besten, wir sagen es gleich der ganzen Mannschaft.

Die anderen beiden nicken. Sie stehen auf …

 

  1. INNEN / TAG / VOSSISCHE ZEITUNG / GROSSRAUMBÜRO

…und kommen ins Großraumbüro. Harald Landry liest noch immer. Die Gesichter seiner Kollegen sind sichtlich amüsiert.

HARALD

(liest) … das Leben der Fußgänger zu studieren, kann jedermann nur nützlich sein. Denn inmitten des tobenden und klirrenden Wirrwarrs losgelassener Mammutmächte auf dieser wildgewordenen Welt – was ist jeder einzelne von uns anderes als ein Fußgänger?“

Die Kollegen klatschen.

 

CHEFREDAKTEUR

(unterbricht)  Nicht schlecht, Pretzel. Wirklich nicht schlecht! Nur leider obsiegen die Mammutmächte…

Alle drehen sich erstaunt zu ihm um.

  Wir erscheinen morgen zum letzten Mal!

ERSTER REPORTER

Was?

ZWEITER REPORTER

Wieso… warum denn?

EINER DER LEITENDEN

Machen wir uns doch nichts vor… Es war nur eine Frage der Zeit, bis Goebbels uns kaltstellen würde. Die Vossische Zeitung war ihm schon immer ein Dorn im Auge.

Es folgt betretenes Schweigen. Raimund steckt sich eine Zigarette an.

 HARALD

(Seitlich an Raimund gewandt)

Und jetzt?

Raimund schaut Harald achselzuckend an und macht sein Feuerzeug mit einem lauten Knall zu.

 

  1. AUSSEN / TAG / TENNISPLATZ

Raimund spielt mit Carla, Horst Lange und Oda Schaefer ein Tennis-Doppel. Carla schlägt den Ball zurück, der nicht sonderlich platziert in Raimunds Feld landet. Raimund ist nicht ganz bei der Sache und schlägt nicht ungeschickt, aber unpräzise zurück. Der Ball landet im Aus.

RAIMUND

… ich weiß nicht. Allmählich sollte ich wirklich ernsthaft darüber nachdenken.

CARLA

Möglichst bald. Am besten noch heute.

ODA SCHAEFER

Das trifft sich aber schlecht.

CARLA

Und warum, Oda?

ODA SCHAEFER

Weil heute der Tag der Reichsmusikkapellen ist.

HORST LANGE

Ja, und morgen ist Reichssporttag.

RAIMUND

Und übermorgen der Kraft durch Freude Tag.

HORST LANGE

Ein tolles Land, wo so viel los ist, was?

RAIMUND

Stimmt Horst! Vor lauter Marschieren kommt man kaum noch zum Strammstehen.

CARLA

Wenn das der Führer wüsste.

Raimund schlägt auf. Der Ball fliegt weit neben das Feld und zerschmettert eine Fensterscheibe im Tennisclubhaus.

 

  1. INNEN / NACHT / VARIETEE-TANZLOKAL

Ein kleines Varietee irgendwo in Berlin. Gläser werden angestoßen. Raimund, Carla, Karl, Erich Kästner, Margret Boveri, Elisabeth Langgässer und Horst Lange feiern Oda Schaefers Geburtstag, geben ihr Geburtstagsküsschen…

HORST LANGE

Auf dich, meine Schatz!… Und auf bessere Zeiten!

Elisabeth Langgässer drückt Oda an sich.

ELISABETH LANGGÄSSER

Und für die Zeit bis dahin habe ich was ganz Besonderes für dich…

Sie gibt ihr ein Buch: „Die Tierkreisgedichte“ von Elisabeth Langgässer.

… Ganz frisch aus der Druckerei.

ODA SCHAEFER

(überrascht und echt erfreut)

Elisabeth! Danke! Du hast es geschafft!? Sie haben dich wirklich gedruckt. Das ist ja toll.

Im Hintergrund betritt der Conferencier die Bühne und geht ans Mikrophon. Am Eingang betritt ein Seemann in Nazi-Uniform das Variete´.

 CONFERENCIER

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte begrüßen sie mit mir die Singenden Helden!

Ein Sänger und ein Pianist kommen auf die Bühne. Wohlwollender Beifall. Die zwei Männer beginnen zu spielen

(Der Marsch ins Dritte Reich)

Musik: Der Führer sagt: Jetzt kommt der letzte Winter!

Nur jetzt nicht schlappgemacht!

Ihr müsst marschieren!

Der Führer fährt voran im Zwölfzylinder.

Marsch! Marsch! Marsch! Marsch!

Ihr dürft die Fühlung nicht verlieren!

Es ist ein langer Weg zum Dritten Reich.

Man soll´s nicht glauben, wie sich das zieht.

Es ist ein hoher Baum die deutsche Eiche.

Von der aus man den Silberstreifen sieht…

Der Nazi-Seemann, er sitzt jetzt mit einigen anderen an einem Tisch und verfolgt das Programm, stößt seinen Tischnachbarn mit dem Ellenbogen an und nickt mit dem Kopf in Richtung Ausgang. Derweil kämpft sich Horst Lange mit einer Torte, auf der 35 Kerzen brennen, durch die dicht gedrängten Tische und Stühle des Varietees.

 ERICH KÄSTNER

(leise) Der Conferencier ist neu.

Raimund schaut sich um.

RAIMUND

Viele Leute sind neu.

CARLA

Dafür verschwinden Schauspieler, Rundfunkansager, Redakteure…

ERICH KÄSTNER

… und keiner weiß, wo sie sind.

Musik: Der Führer sagt: Nur nicht in Lumpen laufen!

Er hat´s ihr schon gesagt, der Industrie

Wir wollen neue Uniformen kaufen.

Der Hauptmann Röhm liebt uns nicht ohne die.

Es ist ein langer Weg zum Dritten Reiche.

Ein bisschen Liebe macht ihn halb so schwer.

Es ist ein hoher Baum die deutsche Eiche.

Und kameradschaftlich sei der Verkehr.

Viel Applaus aus dem Publikum, aber auch ein paar Pfiffe. Horst Lange hat seine kleine Gruppe in der Ecke erreicht und überreicht Oda die Geburtstagstorte. Oda pustet die Kerzen aus. Alle jubeln.

 

  1. AUSSEN / NACHT / VARIETE-TANZLOKAL

Raimund kommt mit der ganzen Truppe aus dem Variete´. Sie sind sichtlich amüsiert, haken sich gegenseitig ein, summen die Melodie der Unterhaltungsmusik mit, die man aus dem Variete’ noch hören kann.

 

ODA SCHAEFER

(begeistert) Leute, was für ein Geburtstagsfest!

Ein paar Meter von der Gruppe entfernt kommt der Nazi-Seemann aus einem Seiteneingang des Varietes mit zwei Kumpanen heraus. Sie laufen an Margret und den anderen vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, und gehen wieder zurück ins Lokal. Ihre Haare sind durcheinander, einer von ihnen hat Blut an der Jacke. Die Truppe kommt an dem Seiteneingang vorbei, aus dem jetzt ein Stöhnen zu hören ist. Wir sehen die Singenden Helden, die vorhin auf der Bühne standen, zusammengeschlagen auf dem Boden liegen. Sie stöhnen.

 

HORST LANGE

Mein Gott…!

Carla übergibt sich.

 

20. INNEN / NACHT / ZEITUNGSDRUCKEREI

Die Druckmaschinen laufen auf Hochtouren. Am Ende des Bandes wird die Ausgabe gestapelt. Die Titelblätter werden ineinander überblendet:

Allgemeine Wehrpflicht und Aufbau der Wehrmacht: (16. März 1935)

Nürnberger Rassengesetze / „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“(15. September 1935)

Rheinlandbesetzung (7. März 1936)

 

  1. AUSSEN / TAG / HAUS VON KARLS ELTERN

Raimund steht vor dem kleinen Vorstadthaus: Die Fenster sind eingeworfen. Auf der Hauswand steht geschrieben: „Lasst euch nicht von Juden belehren!“ Die Haustür steht offen. Raimund tritt vorsichtig ein.

 

22. INNEN / TAG / HAUS VON KARLS ELTERN

Viele Bücher liegen verstreut auf dem Boden des Wohnzimmers, ein paar kaputte Vasen, eine umgestürzte Stehlampe. Karls Mutter ist dabei, die Scherben vom Boden zu kehren.

KARLS MUTTER

Ach, Raimund! Können Sie mir erklären, was das soll!

RAIMUND

Guten Tag, Frau Klar! … Ist Karl da?

KARLS MUTTER

Oh, Gott, oh, Gott!

Karls Mutter schüttelt mit dem Kopf und zeigt auf das Nebenzimmer. Raimund geht auf das Zimmer zu, bleibt im Türrahmen stehen und blickt Karl fragend an. Karl packt einen Koffer. Als er Raimund bemerkt, hält er inne und schaut ihn an.

KARL

Mein Vater, … sie haben ihm die Lehrererlaubnis entzogen.

Und so haben sie es ihm erklärt…

Karl zeigt mit einer Handbewegung auf das Chaos. Raimund blickt sich noch mal um.

… Er will jetzt dagegen protestieren.

Karl macht Anstalten zu lachen, schüttelt dann aber nur verständnislos den Kopf.

RAIMUND

Und du?

KARL

Ich?… Ich haue ab…

Karl schaut auf seine Mutter, die weiter aufräumt.

KARLS MUTTER

Er will zu seinem Onkel in der Schweiz. Aber wir können doch nicht so einfach alles aufgeben.

KARL

Glaubst du auch, dass das falsch ist?

 

23. INNEN / NACHT / BAHNHOF-FRIEDRICHSTRASSE

Der Zug steht bereit. Karl steht vor der offenen Tür.

KARL

Und du?

SCHAFFNER

(ruft) Einsteigen bitte!

RAIMUND

Ich… bin noch nicht so weit.

KARL

Mach’s gut! … Versprichst du mir das?

Sie umarmen sich kurz aber sehr herzlich. Beide wissen intuitiv, dass sie sich sehr lange, womöglich nie wieder sehen werden. Dann steigt Karl ein. Das Pfeifen des Schaffners ertönt. Die Türen schließen sich. Raimund sieht dem fahrenden Zug nach und einer einzelnen winkenden Hand.

 

 

AUSSEN / NACHT / BRANDENBURGER TOR

Raimund schlendert gedankenversunken über den Pariser Platz. Er bleibt stehen, schaut nach oben auf die angestrahlte Quadriga. Ein Knüppel tippt leicht gegen seine Schulter. Raimund zuckt zusammen.

SA-MANN

Hey, Sie! Was zucken Sie denn gleich so? …

Raimund weiß nicht, was er sagen soll.

… Was machen Sie hier?

RAIMUND

(verunsichert) Ich…

SA-MANN

Zeigen Sie mal Ihre Papiere!

Ein zweiter SA-Mann kommt herbei. Raimund nimmt seine Papiere aus der Brusttasche und reicht sie dem SA-Mann mit leicht zitternder Hand. Der zweite Mann mustert Raimund von oben bis unten. Seine gute Kleidung missfällt ihm. Er zieht Raimunds Ziertaschentuch aus der Brusttasche und schnaubt laut hinein.

ZWEITER SA-MANN

Sind Sie Arier?

RAIMUND

(leise) Ja.

Warum zittern sie denn dann? Der erste Polizist schaut sich den Ausweis an. Der zweite Polizist stopft das Taschentuch wieder in Raimunds Brusttasche.

SA-MANN

(zu seinem Kollegen) Scheint alles in Ordnung zu sein.

ZWEITER SA-MANN

Sie reden wohl nicht viel, was?

SA-MANN

Na dann, Heil Hitler!

Die beiden SA-Leute lassen Raimund stehen und gehen auf eine kleine Gruppe ihrer Kumpanen (4-5 Leute) zu, die 20 Meter weiter steht. Auf halbem Weg dreht sich der Zweite SA-Mann noch einmal um und sieht, dass Raimund noch immer am selben Platz steht, seinen Ausweis umständlich in die Brieftasche schiebt.

 

ZWEITER SA-MANN

(rufend) Na los, verschwinden sie!

 

  1. INNEN / TAG / SCHEIDUNGSKAMMER LANDGERICHT

Ein Richter, zwei Beisitzer, zwei Anwälte mit ihren Klienten.

RICHTER

In der Scheidungssache Richard und Rosa Schumann bitte ich jetzt den Anwalt von Frau Schumann, nach vorn zu kommen…

Raimund steht regungslos da.

…Dr. Pretzel, bitte kommen sie nach vorn…

Raimund steht auf und tritt vor den Richter. Er dreht sich zu seiner Klientin, öffnet den Mund, aber irgendwie fehlen ihm die Worte.

…Nun, Dr. Pretzel? Sie haben das Wort.

 

  1. INNEN / ABEND / ELTERNHAUS / FLUR

Das Telefon klingelt. Raimund hebt ab.

RAIMUND

Hallo?

CARLA

Raimund?

RAIMUND

Ja! Carla?

CARLA

Ja. Ich,.. ich rufe aus Paris an. Und… ich bleibe erst mal hier. Weißt du, Berlin, das ist alles ein bisschen zu viel für mich. Verstehst du?

RAIMUND

… ja… ja, ich weiß, was du meinst.

CARLA

Ich weiß nicht, wann ich wieder komme, und ob … und … jetzt geht mir auch noch mein Geld aus… Ich wollte dir nur sagen…

RAIMUND

Carla!!… Tuuuut!

Das Tuten des Telefons. Er bleibt noch einen Moment vor dem Telefon stehen. Dann hängt er auf.  Seine Mutter öffnet die Esszimmertür.

MUTTER

Raimund, nun komm doch essen!

 

  1. INNEN / ABEND / ELTERNHAUS / ESSZIMMER

Die Eltern, Raimund und ein Bruder sitzen beim Abendessen.

 

VATER

Und Raimund, wie läufst am Gericht? Hast du dich inzwischen dran gewöhnt?

Raimund schaut auf seinen Teller, hebt dann den Kopf, als habe er die Frage nicht richtig verstanden. Er quetscht eine Kartoffel in der Soße, wobei die eine Hälfte vom Teller schießt und hinter einer Spur von Soßenflecken auf der Tischdecke landet.

 

  1. AUSSEN / TAG / ZEITUNGSKIOSK

Raimund geht die angebotenen Zeitungen durch. Zwei Meter weiter steht Harald Landry, der in eine Zeitschrift vertieft ist, in die er auch hineinkritzelt. Plötzlich entdeckt Raimund ihn.

 RAIMUND

Mensch, Harald!

HARALD

(wiedererkennend) R-a-i-m-u-n-d!…

RAIMUND

Was machst Du denn hier?

Sie schütteln sich die Hände

HARALD

Wetten, Pferdewetten! Ich sage dir, das ist die einzige ehrliche Arbeit, die es noch gibt – und die sich lohnt.

RAIMUND

(Um Haralds Arbeitsmoral wissend)

Kaputt scheinst du dich jedenfalls nicht zu machen?

HARALD

Man tut, was man kann! Und du? Was macht die Scheidungskammer?

RAIMUND

Ich mache nur sporadisch Vertretungen. Und das will ich eigentlich auch aufgeben.

HARALD

Und was suchst du hier?

RAIMUND

Eine Zeitung… Eine, die man noch lesen kann, und eine für die ich wieder schreiben könnte.

HARALD

Na ja, viel Auswahl gibt´s ja nicht mehr. Was soll es denn sein: Politik, Sport, Wirtschaft?

RAIMUND

Politik muss es nicht sein. Aber vielleicht Kultur, Unterhaltung, irgendwas Buntes.

HARALD

Ullstein sucht für die „Neue Modenwelt“ einen Redakteur. Vielleicht ist das was für Dich. Meine geschiedene Frau kennt jemanden in der Redaktion. Geh doch mal zur ihr! Sie wohnt in der Bonner Straße.

 

28. INNEN / TAG / HAUSFLUR / BONNER STRASSE 1A

Raimund geht die Treppe hoch. Zwei Kinder, etwa 3-4 Jahre alt, spielen lautstark im Treppenhaus. Auf dem Treppenabsatz stehen Erika Schmidt und Irmgard Klar, zwei Frauen, beide Mitte, Ende 30. Irmgard blond, Erika, ein dunkelhaariger Lockenkopf mit eckiger Brille. Aus Erikas Wohnung, die Tür ist nur angelehnt, hören wir Musik: Einen heiteren Part aus Haydns Schöpfung. Die Frauen sind in ein Gespräch vertieft. Die Stimmung ist ausgelassen.

ERIKA

Und gestern hat Peter meine frisch gepflanzten Blumen auf dem Balkon entdeckt. Die konnte ich dann anschließend von der Straße aufklauben.

IRMGARD

(lacht) Da hat der Hauswart endlich mal was zu tun gehabt.

(beide lachen)

Raimund bleibt jetzt zwei Stufen vorm Treppenabsatz entfernt stehen und nimmt seinen Hut ab.

RAIMUND

Entschuldigen Sie, meine Damen, ich suche Frau Erika Schmidt?

ERIKA

Ja? Das bin ich.

RAIMUND

Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Raimund Pretzel. Herr Landry hat mir ihre Adresse gegeben. Er meinte, sie hätten Kontakt zur „Neuen Modenwelt“ und dass dort eine Redakteursstelle frei wäre…

Erika mustert den Mann. Er gefällt ihr.

… Ich habe früher mit Harald für die Vossische geschrieben.

Erika stößt die unverschlossene Tür weiter auf.

ERIKA

Kommen Sie doch rein.

(zu Irmgard) Wir sehen uns dann später.

IRMGARD

Pass auf deine Blumen auf!

 

29. INNEN / TAG / WOHNZIMMER

Erika steht vor ihrem Schreibtisch, über dem ein expressionistisches Bild hängt. Vielleicht Kandinsky oder Paul Klee. Daneben hängt ein Bild von Carl Valentin und Erika. Die Wohnung (Tisch, Sessel, Lampen) ist im Art Deco Stil eingerichtet. Erika steckt sich eine Zigarette an und schreibt einen Namen auf einen Zettel. Im Zimmer stehen hohe Regale mit sehr vielen Büchern. Raimund streift mit seitlich geneigtem Kopf interessiert über die Buchreihen. Erika drückt ihm den Zettel in die Hand.

ERIKA

Hier, ich denke, der kann ihnen weiterhelfen.

RAIMUND

Danke!

ERIKA

Lesen sie viel?

RAIMUND

Wenn ich nicht schreibe, ja.

ERIKA

Was?

 

RAIMUND

Alles.

ERIKA

Alles?

RAIMUND

Rilke, Hofmannsthal, Flaubert, Heinrich Mann, Thomas Mann.

ERIKA

Thomas Mann?

RAIMUND

Vor allem!

Erika zieht an ihrer Zigarette.

RAIMUND

Und Sie?

Er zieht „Das Kapital“ aus dem Regal.

… Marx?

ERIKA

Ja, warum nicht?

Raimund zieht an anderer Stelle Freuds Psychoanalyse heraus

RAIMUND

Freud?

ERIKA

(nickt) Wissen sie, warum ich Freud und Marx so weit auseinander gestellt habe?

Raimund zuckt mit den Schultern.

 ERIKA

Wenn Freud und Marx einander begegnet wären, hätten sie trotzdem nie miteinander reden können.

RAIMUND

Hmh?

ERIKA

Freud hätte den Marxismus immer nur als Resultat von Marx´ persönlichen Komplexen gesehen…

Raimund muss schmunzeln, Erika ebenso.

RAIMUND

Und Marx?

ERIKA

… und Marx hätte die Psychoanalyse immer nur als Ergebnis von Freuds Klassensituation gesehen.

Beide schauen sich einen Moment lang an, dann lachen sie laut auf. Als ihr Lachen vergeht, wird es ganz leise.

RAIMUND

Haben Sie Lust, am Wochenende mit mir auf ein Fest zu gehen?

 

  1. INNEN / NACHT / WOHNUNG VON ODA SCHAEFER

Das Türschild: Oda Schaefer, Horst Lange – Schriftsteller. Sie wollen gerade klingeln, als sich die Tür öffnet und ein leicht angesoffener junger Mann herauskommt.

MANN

Hallo! Wollt ihr hier rein? Ist mächtig was los. Ich muss nur eben zu einer anderen Feier und komme dann gleich wieder, ja?!

Er stolpert die Treppe runter.

ERIKA

(zur Raimund) Wer ist das denn?

RAIMUND

(verwundert) Ich hab keine Ahnung. Aber es hat wohl schon angefangen.

Sie treten in die Wohnung ein: Eine Party unter Intellektuellen, vielleicht 15-20 Leute befinden sich in einem Zimmer. Man trinkt, isst, raucht, amüsiert sich. An einer Seite des Raumes ist ein kleines Büffet aufgebaut mit Bouletten und Kartoffelsalat. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes singen zwei Gäste zur Musik der Comedian Harmonists.

 DIE ZWEI

Ein bisschen Leichtsinn kann nicht schaden…

Raimund blickt von der Tür aus ins Zimmer. Er winkt Horst Lange und Elisabeth Langgässer zu, die in einer Ecke des Raumes sitzen. Elisabeth hat einen Brief in der Hand, den sie offensichtlich Horst vorliest.

 ELISABETH

… Hör dir das an Horst! Sehr geehrte Frau Langgässer, nach Überprüfung der uns vorliegenden… usw. usw., müssen wir ihnen mitteilen, dass wir sie nicht länger als Mitglied der Reichsschrifttumskammer führen können.

HORST

Herzlichen Glückwunsch, Elisabeth!

ELISABETH

(lacht gewollt) Glückwunsch? Mit Veröffentlichungen ist es jetzt jedenfalls vorbei.

Raimund steht mit Erika noch etwas Abseits im Raum. Sie haben inzwischen aber zwei Weingläser in ihren Händen. Oda Schaefer kämpft sich durch die herumstehenden Leute und wankt auf Raimund und Erika zu.

ODA SCHAEFER

(angeheitert) Na ihr, amüsiert ihr euch auch gut?

RAIMUND

Danke, Oda, prächtig! Darf ich dir übrigens Erika Schmidt vorstellen? Sie ist eine Bekann…

Bevor er ausgesprochen hat, legt ihm Oda den Zeigefinger auf den Mund.

ODA SCHAEFER

Vorsicht, Raimund! Gelogen wird draußen. (zu Erika) Oda Schaefer, seien sie willkommen!

ERIKA

Danke.

Oda prostet den beiden lächelnd zu und dreht sich dann den anderen zu.

 ODA SCHAEFER

Und nun liebe Gäste,…

Von hinten kommt Horst Lange, der Oda an den Hüften anfasst und ihre Wange und den Hals küsst. Oda quiekt, fängt sich aber gleich wieder.

… ein Toast auf den Führer, der die Olympischen Spiele nach Berlin gebracht hat und damit auch ein bisschen frische Luft in den Kuhstall. Nur schade, dass der Führer – sportlich, blond, blauäugig, 1.80 Meter, wie er nun mal ist – nicht selber daran teilnimmt. Er würde bestimmt für einen großen Medaillensegen sorgen.

Allgemeines Gelächter.

 ERICH KÄSTNER

Für Österreich!

Noch lauteres Lachen. Ein Gespräch an einem Tisch. Horst Lange lallt Erich Kästner voll.

 HORST LANGE

Schau Dir Margret an! …

 Er wendet sich Margret Boveri zu.

 … statt endlich zu verschwinden, erschreibt sie sich jeden Tag kleine neue Alibis. Hier ein eingeschmuggeltes Adjektiv, dort ein zweideutiger Nebensatz. (ironisch) Und das ganze nennt sie dann Widerstand.

MARGRET

Vielleicht lügen wir ja alle – ein bisschen, Horst. Aber ob du es glaubst oder nicht: Das „Berliner Tageblatt“ ist noch immer sehr wertvoll für Regimegegner.

HORST LANGE

Und, wie lange, glaubst du, existiert dein Tageblatt noch?

 Er wendet sich von Margret ab und Raimund zu.

… Und du Raimund, worüber schreibst du eigentlich?

RAIMUND

Ich?… (verschmitzt) über Mode, das Wetter, Zigaretten, über Pünktlichkeit und Langschläfer und über … Pferde.

HORST LANGE

Pferde? (überrascht, amüsiert) Und über was für Pferde?

RAIMUND

Über Braune jedenfalls nicht.

Lachen setzt ein, eine Glenn-Miller-Musik ertönt. Raimund nimmt Erika an die Hand. Sie fangen an zu tanzen, die anderen tun es ihnen gleich.

 

31. AUSSEN / NACHT / STRASSE

Raimund bringt Erika durch die laue Sommernacht nach Hause.

 ERIKA

… früher war ich Bibliothekarin an der Hochschule für Politik. Aber nach der Machtübernahme war das vorbei. Theodor Heuss, mein Chef, hat sich noch für mich eingesetzt. Aber der ist dann selbst rausgeflogen… Jetzt mache ich Zuhause ein paar Schreibarbeiten. Das reicht so für das Nötigste.

Sie kommen vor dem Haus an, im dem Erika wohnt.

RAIMUND

Darf ich dich wieder sehen?

ERIKA

Du weißt nicht, worauf du dich einlässt…

RAIMUND

Deshalb.

ERIKA

Ich bin geschieden.

RAIMUND

Ich weiß.

ERIKA

Ich habe einen dreijährigen Sohn.

RAIMUND

Ich mag Kinder.

ERIKA

Und ich bin älter als du.

RAIMUND

Ich liebe ältere Frauen.

ERIKA:

Und… ich bin Jüdin.

RAIMUND

Jüdin…, ist das wahr?

Raimund neigt sich über Erika

ERIKA

Jedenfalls für die Nazis.

RAIMUND

Gebt dem Sohn eines Zollbeamten, was dem Sohn eines Zollbeamten gebührt…

 Er küsst Erika vorsichtig

… und einem Liebenden die von ihm Geliebte!

 Sie küssen sich innig.

 

32. INNEN / TAG / ERIKAS WOHNUNG

Erika steht im Bad. Sie schaut gut gelaunt in den Spiegel, kämmt sich die Haare und summt dabei. Hinter ihr steht Irmgard, die Erika betrachtet.

IRMGARD

Und, wie war´s?

 ERIKA

(mimt Irmgard nach)

Wie war´s? Wie war´s? … Schön war´s, Irmgard.

(mit verdrehten Augen)

Schön…

Erika dreht sich zu Irmgard um.

… großartig!

Beide lachen laut auf und umarmen sich.

IRMGARD

Schön,… ich freu mich für dich.

Erika dreht sich wieder um, schaut in den Spiegel, diesmal kritischer. Sie entdeckt ein paar graue Haare, den Ansatz von ein paar Falten unter den Augen.

ERIKA

Was meinst du…, bin ich nicht viel zu alt für ihn?

IRMGARD

Bist du verliebt? …

 Erika nickt eindeutig.

… Na dann!

 

33. INNEN / NACHT / DRUCKEREI

Die Druckmaschinen laufen. Am Ende des Bandes wird die Ausgabe gestapelt. Die Titelblätter werden ineinander überblendet:

Rheinlandbesetzung: 7. März 1936

Achse: Berlin-Rom: 25. Oktober 1936

Anschluss Österreichs: 14. März 1938

 

34. INNEN / TAG / REDAKTION / NEUE MODENWELT

Raimund sitzt in einem kleinen Büro an seinem Tisch. Er reibt sich die Augen, lehnt sich zurück und sieht seinen Assistenten Kindler an.

RAIMUND

Und, Herr Kindler, worüber berichten wir heute? Neue Hüte, spitze Schuhe oder über die Kunst ein Taschentuch zu falten?

KINDLER

Vielleicht sollte man Märtyrer werden.

RAIMUND (nachdenklich)

Nein,… das liegt mir nicht. Es nützt auch wenig, einzelne Leute umzu… Und genau genommen hat es wenig Stil…

 Er blickt aus dem Fenster und sieht wie Bauarbeiter auf dem gegenüberliegenden Gebäude Putzarbeiten verrichten.

… Aber muss man deshalb die Fassade vom netten Deutschland aufrechterhalten?

 

35. INNEN / TAG / ERIKAS UND RAIMUNDS WOHNUNG / BONNER STRASSE 1A

Raimund liest Zeitung: „Anschluss Österreichs“. Erika (wir sehen, dass sie schwanger ist) steht neben ihrem Sohn (jetzt sechs Jahre alt) am Klavier. Die Melodie (Freude schöner Götterfunken) klingt schlecht. Erika ist nervös. Es klopft an der Tür. Erika zuckt zusammen. Sie schaut Raimund fragend an. Geht dann langsam zur Tür und öffnet vorsichtig, so weit sie die Tür mit Vorhängeschloss öffnen kann. Vor der Tür steht Harald Landry. Sie macht die Tür wieder zu, öffenet das Vorhängeschloss und dann die Tür.

ERIKA

Mein Gott, Harald! Hätte nie gedacht, dass ich mich über dich so freuen kann.

Harald tritt ein, nimmt Peter auf den Arm.

HARALD

Na, Sohnematz!…

Er gibt ihm einen dicken Kuss, wendet sich dann Erika zu.

… Endlich weiß ich, warum unsere Ehe scheitern musste.

ERIKA

Keine Zeit für die Familie und immer nur Pferdewetten und Philosophie im Kopf. Das verträgt sich nicht.

HARALD

Ach, was! …

Raimund schaut Harald fragend an.

… Na ja, immer wenn ich kam, dachte Erika, es wäre der Führer. Und irgendwann glaubte ich es dann selbst.

(mit vibrierendem Hitler-Pathos)

Wenn die Vorsehung mich einst zur Führung dieser Frau berief, dann muss sie mir damit einen Auftrag erteilt haben, und  …

Ihm versagen die Worte.

RAIMUND (im gleichen Hitler-Pathos weiter)

… und es kann nur der Auftrag gewesen sein, sie einem guten Freund anzuvertrauen.

Alle drei lachen. Als es wieder leise wird, legt Raimund die Zeitung weg und schaut aus dem Fenster hinaus in den bewölkten Himmel und dann zu Harald.

RAIMUND

Mein Führer, irgendwie sieht das alles ganz düster aus.

ERIKA

(zu Raimund) Raimund, wir müssen weg!

RAIMUND

(zu Harald) In der Industrie produzieren sie immer mehr für die Rüstung.

HARALD

Wenn ich Geld hätte, würde ich Krupp-Aktien kaufen.

Erika schaut auf Peter, dann auf ihren Bauch.

ERIKA

… schon wegen Peter… wegen unserer Kinder. Kurt und Annemarie, meine Geschwister, leben in Cambridge. Vielleicht können wir nach England.

HARALD

Aus Deutschland rauszukommen ist schon schwierig, aber schwieriger noch wird es, irgendwo reinzukommen.

ERIKA

(fleht Raimund an)

Aber wir müssen es probieren…

 Sie dreht sich zu Harald um

… Wir alle!

HARALD

Vielleicht hast du Recht.

RAIMUND

(zu Harald) Erikas Schwester mag dich doch ohnehin nicht. Da gefällt es dir bestimmt.

 

36. INNEN / TAG / BRITISCHE BOTSCHAFT

Erika sitzt vor einem Beamten der Botschaft. Zwischen ihnen ein überdimensionaler Schreibtisch. Der Beamte geht Erikas Unterlagen durch.

BEAMTER

Sie wollen nach England?

ERIKA

Ja.

BEAMTER

Was wollen sie dort?

ERIKA:

Ich möchte meine Geschwister besuchen.

BEAMTER

So, … sie sind Jüdin!?

ERIKA:

Nein!

BEAMTER

Das steht aber hier.

ERIKA:

Ja… Meine Großeltern waren Juden. Aber sie sind schon vor ewigen Zeiten konvertiert.

Der Beamte stempelt die Papiere.

BEAMTER

Abgelehnt! Im Vereinigten Königreich gibt es schon genug Emigranten.

 

37. AUSSEN / TAG / VOR EINEM WOHNHAUS

Erika und Raimund hasten zu ihren Freunden. Raimund tritt auf dem Bürgersteig in Hundescheiße.

RAIMUND

„Verdammt!“…

Er wischt sich den Schuh an einem Rasenbüschel ab.

 (zu Erika)

… Egal. Du probierst es übermorgen einfach noch mal. Schmink dich, und nimm den Jungen mit. Und versuche, an einen anderen Beamten zu kommen.

Sie erreichen das Haus, wo Oda Schaefer wohnt und klingeln.

 

38. INNEN / NACHT / WOHNHAUS

Der Freundeskreis von Raimund und Erika ist versammelt. Sie sitzen um einen großen Tisch. In der Mitte liegt ein großer Teller mit belegten Broten. Es liegt etwas Starres über der Tafel. Keiner bewegt sich. Raimund hat ein fast leeres Bierglas vor sich.

RAIMUND (Spricht in die Runde)

Karl hatte Recht. Alle, die am Anfang abgehauen sind, hatten Recht.

ERICH KÄSTNER

Furtwängler, Böhm,… und viele andere sind immer noch hier. Das sind doch wohl keine Nazis.

ODA SCHAEFER

Wenn wir emigrieren, richten wir nichts gegen Hitler aus, aber wir räumen das Feld. Und Widerstand kann nur von Innen kommen.

ERICH KÄSTNER

Außerdem brauche ich die deutsche Sprache, um zu arbeiten.

RAIMUND

(ironisch) Arbeiten!? … unpolitische Hörspiele, … Naturlyrik…

Raimund schaut die Tafel von einem zum anderen. Dann blickt er in einen Spiegel, der ihm gegenüber an der Wand hängt.

… Nachrichten aus der Modewelt. Letztendlich trägt das alles nur zur Verharmlosung bei. Da draußen spielt eine ganz andere Musik.

ELISABETH LANGGÄSSER

Weg? Und meine Mutter, meine Tochter?

RAIMUND

Wir beruhigen doch nur unser Gewissen damit, dass wir nicht für die Nazis arbeiten. Aber wenn wir hier bleiben, unterwerfen wir uns Hitler, ob wir wollen oder nicht. Aber mit unseren Zwischenexistenzen wird es in Kriegszeiten ein Ende haben. Und die kommen. Verlasst euch drauf!

ERICH KÄSTNER

Aber als Schriftsteller muss ich erleben, wie die Menschen ihr Schicksal ertragen. Auch in schlimmen Zeiten. Außerdem: Wer sagt denn, dass das Führerspektakel nicht bald vorbei ist?

Raimund trinkt den letzen Schluck Bier aus und wendet sich an Erich.

RAIMUND

Erich, glaubst du wirklich, dass Hitler jetzt, nachdem er seine Macht gefestigt hat, einfach abtritt? Es gibt keine Parteien mehr, keinen Rechtsstaat, nichts. Mann, wo sind deine Detektive!? …

Betretenes Schweigen.

 Eigentlich alles gar nicht so schlimm hier, oder?!

 Er steht auf und geht um den Tisch. Vor Odas Teller, auf dem ein Käse- und ein Wurstbrot liegen, bleibt er stehen.

Wie ein ordentliches Essen, nicht wahr? Nichts für Gourmets vielleicht, aber hier Wurst, dort Käse, dazu ein gutes Brot mit viel Butter drauf. Alles wunderbar! Wenn da nur nicht…

Er nimmt ein Messer vom Tisch, kratzt mit der Spitze ein Stück Dreck aus dem Profil seines Schuhs und schmiert es auf den Tellerrand.

… immer ein Stück Scheiße läge.

 

39. INNEN / TAG / BRITISCHE BOTSCHAFT

Erika geschminkt mit modischen Hut und Peter an der Hand sitzt vor einem anderen Beamten, der sie anlächelt.

BEAMTER

Nach England?

ERIKA

Ja!

BEAMTER

Was wollen sie in England?

ERIKA

Ich will zu meinen Geschwistern. Mein Bruder lebt in Cambridge – schon viele Jahre…

Sie lächelt den Beamten an.

… Er ist schon fast kein Deutscher mehr.

PETER

My uncle is English!

BEAMTER

Sometimes that´s not a fault.

Der Beamte stempelt die Papiere und übergibt ihr das Visum.

 

40. AUSSEN / TAG / BOTSCHAFT

Erika geht um die Ecke der Botschaft, wo Raimund auf sie wartet. Eine Umarmung der Erleichterung.

 

41. INNEN / TAG / BAHNSTEIG

Raimund bringt Erika und ihren Sohn Peter zum Zug.

 RAIMUND (flüsternd)

Keine großen Abschiedsszenarien. Wir sehen uns ja bald wieder.

ERIKA

Hoffentlich!

Sie umarmen sich kurz.

 

42. INNEN / TAG / REDAKTION NEUE MODENWELT

Raimund packt seine Sachen vom Schreibtisch zusammen. Kindler tritt herein.

KINDLER

Ich habe gehört, sie haben eine Recherchereise beantragt, Herr Pretzel?

RAIMUND

Und bewilligt bekommen. Sie haben richtig gehört, Herr Kindler!

KINDLER

(ungläubig) Man hat ihnen eine Auslandsrecherche gewährt!?

RAIMUND

Ja!

KINDLER

Wollen sie etwas Größeres schreiben?

RAIMUND

So könnte man es sagen.

Er kramt weiter, leert auch die Schubladen seines Schreibtisches. Als er eine kleine Bach-Büste einpacken will, wiegt er sie in der Hand und gibt sie Kindler.

… Hier, für Sie! Wenn Sie mal eine Pause von der Marschmusik brauchen. Ich muss Bach bloß ansehen, um seine Musik zu hören.

KINDLER

Danke…

Er schaut die kleine Büste an, es folgt betretenes Schweigen

… Sie … sie wollen nur raus, stimmt’s?

 

43. AUSSEN / TAG / CAMBRIDGE / URSELS HAUS

Kurt (Erikas Bruder), Annemarie (Erikas Schwester) und Erika sind in dem typisch englischen Vorgarten des Hauses. Kurt beschneidet die Hecke, Peter „hilft“ ihm dabei. Erika und Annemarie sitzen an einem kleinen Tisch und trinken Tee.

ANNEMARIE

Als Schauspielerin kann ich hier fast nichts machen. Für die Bühne ist mein Englisch einfach nicht gut genug. Und… ich will dir nichts vormachen, Erika… Für dich wird es auch nicht einfacher.

ERIKA

Aber ich habe zum ersten Mal seit Jahren keine Angst mehr. Keine Angst, wenn es an der Tür klingelt, keine Angst verraten zu werden, keine Angst auf die Straße zu gehen. Verstehst du?

Annemarie nickt. Erika trinkt von ihrem Tee und schaut auf Peter, der jetzt mit der Schere an der Hecke hantiert.

KURT

(zu Peter) That´s it! You got it.

 

44. ZUG / TAG / INNEN

Raimund sitzt im Zugabteil. Ein Pärchen mittleren Alters sitzt ihm gegeben über. Der Mann liest den Völkischen Beobachter. Seine Frau häkelt. Raimund schaut aus dem Fenster.  / Bildmontage: Ein Bahnhof, Felder, vorbeiziehende Häuser, Kühe auf der Weide, die dampfende Lokomotive, drehende Räder.

REISENDER

(lesend – zu seiner Frau)

Der Führer, das ist ein ganzer Kerl…

Raimund schaut ihn verständnislos an. Bildmontage: Im Folgenden sind Bilder und Filmaufnahmen von Hitler zu sehen: Hitler im Krieg, im Obdachlosenasyl, im Bierkeller, Parteiaufstieg, Parteitag – Hitler läuft heroisch, alle Blicke auf sich gerichtet.

… Der weiß, was er will.

Hitler läuft in die falsche Richtung, wird von einem Umstehenden korrigiert, steht an der Rednerbühne, redet sich in Rage, lächelt selbstzufrieden.

 … Gott sei Dank, dass wir jetzt den Führer haben!

Raimund kann sich nicht mehr zurückhalten. Er fällt dem Reisenden ins Wort.

 RAIMUND

Wissen Sie, wen sie da anhimmeln? Einen Absteiger! …

Der Reisende nimmt seine Zeitung verwundert runter.

Was ist denn mit Hitlers künstlerischen Ambitionen? Gescheitert! Maler wollte er werden. Was wurde er: Anstreicher! Als Arbeiter?  Versagt! Vier Jahre im Krieg und noch immer nur Gefreiter. Nicht einmal die kleinste Truppeneinheit hat man ihm anvertraut. Nach dem Krieg? Ein  Armeespitzel! Ein mies bezahlter Schnüffler. Vom Obdachlosen, Gelegenheitsarbeiter und Hungerleider zum Befehlshaber. Ein Geächteter, der aufs Äußerste entschlossen ist, sich selbst zum Herrn der Welt zu machen. Aber Hitlers Minderwertigkeitskomplex macht es ihm unmöglich, irgendetwas außer sich selbst zu lieben. Und – schlimmer noch – er hasst die Welt…

Dem Reisenden fällt die Kinnlade herunter.

Ein Staatsmann? Er trägt die Maske eines Staatsmannes. Eine Maske, die nur hält, solange er Macht hat. Wenn die zerbricht, zerbricht alles. Hitler ist der potentielle Selbstmörder par excellence. Das ist ihr Führer, mein Herr!

Der Frau fällt das Häkelzeug aus der Hand. Sie will etwas sagen, kriegt aber keinen Ton heraus.

REISENDER

Das ist doch…

Die Tür des Abteils wird geöffnet. Der Kontrolleur tritt ein.

KONTROLLEUR

Hallo, Sie da! …

Er Kontrolleur schüttelt Raimund an der Schulter. Raimund wacht auf. Außer ihm sitzt niemand mehr im Abteil.

… Fahrkartenkontrolle!

 

45. INNEN / NACHT / SEATON / WARNER´s CAMP / KOMMANDANTUR

RAIMUND

… Hitler hat keine Bindungen außer an sein Ego. Also kann er alles wagen, um seine Macht zu erhalten… alles!

STELLV. KOMMANDANT (nachdenklich)

Und seine Methoden?

RAIMUND

Methoden? Er kennt nur eine Methode – Gewalt. Natürlich bedient er sich der Demagogie, der Verleumdung, der Versprechungen und der Lüge: nur große Lügen, keine kleinen; keine Beweise, nur dauernde Wiederholungen. Alles ziemlich stupide…

STELLV. KOMMANDANT

… aber wirksam!?

RAIMUND

Bei Hitler gehen Propaganda, überzeugen und verhandeln Hand in Hand mit Gewalt und Terror. Das ist seine Methode. Und die wirkt.

 STELLV. KOMMANDANT

War das der Beginn ihres Buches?

RAIMUND

Ja,… nein! Zunächst waren es bloß Gedanken.

Der Stellvertretende Kommandant steht auf, geht zum Fenster und blickt hinaus. Es regnet noch immer. Allerdings ist der Regen jetzt feiner, und der Sturm hat sich etwas gelegt. Er dreht sich wieder um zu Raimund.

STELLV. KOMMANDANT

Erzählen sie weiter!

 

46. INNEN / TAG / CAMBRIDGE / BAHNHOF

Insert: 29. August 1938

Raimund tritt aus dem Zug, schaut umher. Dann sieht er Erika – die Schwangerschaft ist noch deutlicher sichtbar -, die auf ihn zukommt. Sie fallen sich um den Hals. Eine lange innige Umarmung.

ERIKA

Welcome to England!

 

47. AUSSEN / TAG / ZUHAUSE

Sie stehen vor einem kleinen Haus in der Bateman Street 47.

ERIKA

Da wären wir. Das Häuschen hat uns Kurt besorgt.

RAIMUND

Großartig.

Erika öffnet die Haustür.

 

48. INNEN / TAG / ZUHAUSE

ERIKA

Es hat alles, was wir brauchen…

Sie betreten den Flur, dann das Wohnzimmer.

… Und sogar Dinge, die wir nicht brauchen.

Dort steht Harald Landry.

 HARALD

Surprise, suprise!

RAIMUND

Harald! ... (überrascht)  Du hast es tatsächlich geschafft.

Die beiden umarmen sich. Allerdings hält sich Raimunds Freude in Grenzen. Er ist mehr überrascht als erfreut.

HARALD

Unkraut vergeht nicht.

ERIKA

Er wohnt auf der anderen Seite der Stadt. Ich glaube, wir werden ihn einfach nicht mehr los.

Alle drei lachen. / Blende.

 

49. AUSSEN / TAG / ZUHAUSE

Harald verlässt das Haus. Raimund und Erika stehen vor der Haustür und winken ihm hinterher. Er verschwindet hinter der nächsten Ecke.

 

  1. INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Peter schläft im Kinderbett. Erika liegt entspannt, bauchwärts, das linke Bein angewinkelt, um ihren Bauch zu entlasten, nackt auf dem Bett.  Raimund – ebenfalls nackt – hat seinen Kopf auf seinen angewinkelten linken Arm abgestützt. Mit seiner rechten Hand streicht er Erikas Seite. Die Nachttischlampe wirft nur wenig Licht auf die beiden.

RAIMUND

Weißt du, in den letzten Monaten, da gab es Momente, wo ich dachte: Jetzt, jetzt verschleppen sie uns. Und das ist es dann. Und diese Angst wurde immer größer. Vielleicht ist auch gar Angst nicht das richtige Wort. Es war eher ein Gefühl von Taubheit…

ERIKA

Ich weiß, was du meinst.

RAIMUND

Was wohl mit Karl ist, und unseren Familien und all den anderen? … Und dann du jetzt hier!

Raimund gibt Erika einen dicken Kuss auf ihren Hintern.

ERIKA

Liebst du mich?

RAIMUND

Liebeserklärungen gebe ich nur schriftlich ab.

ERIKA

Ich meine es ernst.

RAIMUND

Ich auch… Ich verrate es dir… Aber nur wenn du mich heiratest.

ERIKA

Wann?

RAIMUND

So schnell, wie möglich.

 

51. INNEN / TAG / ZUHAUSE

KURT

Das junge Paar es lebe hoch!

Gläser werden angestoßen. Erikas und Raimunds Hände ziert ein Ring. Annemarie, Kurt, und Harald Landry sind dabei. Erika und Raimund küssen sich. Harald tritt mit einem Geschenkpaket an Raimund heran.

HARALD

Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden! Das ist von mir…

 Er überreicht sein Geschenk

 … Zuerst dachte ich daran, euch eine politische Biographie zu schenken, z.B. „Mein Kampf“ von einem gewissen…

Allgemeines Lachen

 … aber, aber dann ist mir etwas viel Besseres eingefallen.

Erika packt das Geschenk aus.

ERIKA  (überrascht)

Eine Goebbels-Schnauze!…

Noch lauteres Lachen

… Wie die wohl hier in England klingt?

RAIMUND

Endlich Radio hören ohne Ohrenschmerzen. Danke, Harald!

HARALD

Hier gibt es einfach die besseren Frequenzen.

Von der Seite tritt nun auch Annemarie an das Hochzeitspaar heran. Ebenfalls mit einem Geschenkpaket.

 ANNEMARIE

Raimund! Hier, bitte! Das ist von Kurt und mir. Wir hoffen, ihr könnt damit etwas anfangen.

RAIMUND

Danke, Annemarie! …

 Er beginnt auszupacken

… Mein Gott, eine Schreibmaschine?!

Raimund schaut das Ding etwas verwundert an.

ERIKA

Eine tolle Idee! Habt vielen Dank!

RAIMUND

(etwas weniger enthusiastisch)

Danke!

KURT

Was willst du eigentlich jetzt in England machen?

RAIMUND

Ich hoffe, dass ich als Rechtsanwalt, irgendeine Stelle an der Universität bekomme. Vielleicht kannst du mir dabei ja helfen.

KURT

Das wird schwierig. Aber ich kann es versuchen.

RAIMUND

Außerdem wollte ein Tagebuch schreiben. Meine Eindrücke in Deutschland vom Weltkrieg an bis, bis… möglicherweise bis zum Beginn eines neuen Krieges. Aber natürlich muss ich zunächst Arbeit finden.

KURT

Krieg? Du spinnst! Alle Welt spricht vom Frieden. Chamberlain hat gestern in München mit Hitler ein Abkommen (29. September 1938) unterzeichnet…

RAIMUND (entsetzt)

Er hat was?

KURT

Chamberlain hat Hitler…

RAIMUND

… das Sudetenland geschenkt!? Mein Gott, begreift er denn nicht, dass diese nutzlose Beschwichtigungspolitik ein Ende haben muss?

KURT

Nutzlos? Ich denke, er erhält uns den Frieden. Und die englische Presse feiert ihn.

RAIMUND

Kurt, was ist das Friedenspapier wert, das ein Kriegstreiber unterschreibt?

KURT

Du redest wie Churchill.

 

52. INNEN / TAG / HOUSE OF PARLIAMENT

Unterhaussitzung Anfang Oktober. Winston Churchill steht am Pult und verurteilt Chamberlains Nachgiebigkeit.

CHURCHILL

Das ist der falsche Weg, Mr. Primeminister. Denn dies ist nur der erste Schluck, der erste Vorgeschmack eines bitteren Bechers, der uns nun Jahr für Jahr gereicht werden wird,…

 

53. INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Erika, Raimund und Peter sitzen um den Wohnzimmertisch herum und spielen „Mensch ärgere dich nicht“. Auf einem Beistelltisch steht die Goebbels-Schnauze. Das Ziffernblatt leuchtet. Aus dem Radio hört man die Rede Winston Churchills. Raimund würfelt.

CHURCHILL

… sofern wir nicht durch eine außerordentliche Wiederherstellung unserer moralischen Gesundheit…

PETER

Sechs!

ERIKA

Schon wieder!

Raimund schaut zum Radio und geht gedankenversunken mit seiner letzten Figur die Felder entlang ins Haus.

RAIMUND

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.

PETER (enttäuscht)

Du hast gewonnen!

CHURCHILL

… und kriegerischen Stoßkraft aufstehen und unsere Position auf der Seite der Freiheit wie in früheren Zeiten einnehmen.

RAIMUND

Gott sei Dank! Wenigstens du bist noch da, Winston! Wenigstens du!…

Ich habe gewonnen. (Lacht)

Es klingelt an der Haustür. Raimund geht zur Tür.

54. AUSSEN / INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Vor ihm steht eine ältere Quäkerfrau. Sie hält eine Einladungskarte in der Hand.

MARY McDONALD

Guten Abend, meine Name ist Mary McDonald. Ich bin von den Quäkern und kümmere mich um die Ausländer hier in Cambridge. Ich wollte fragen, ob sie irgendwelche Probleme haben. Oder ob sie vielleicht Hilfe brauchen?

RAIMUND (angenehm überrascht)

Ach, wissen Sie, im Moment eigentlich nicht. Aber vielleicht kann ich auf ihr Angebot ein andermal zurückkommen.

MARY McDONALD

Gern. Wir sind hier gleich um die Ecke in der High Street. Fragen sie einfach nach Mary McDonald.

 

55. INNEN / TAG / KRÄMERLADEN

Auf dem Ladentisch stehen einige Konservenbüchsen, ein Brot und eine Flasche Milch.

LADENBESITZER

Das macht zwei Schilling und zwölf Pence, Mrs. Pretzel.

Erika kramt etwas unbeholfen in ihrem Mantel herum, zieht ihr Portemonnaie heraus und sieht, dass bis auf ein Paar Pence nichts drin ist.

ERIKA:

Ich…

LADENBESITZER

Schon gut, ich schreib´s auf, ja?

ERIKA: (peinlich berührt, aber dankbar)

Tja, äh…

LADENBESITZER

Wie beim letzten Mal, ja?

Erika steckt die Sachen in ihre Einkaufstasche.

ERIKA

Vielen Dank, Mr. Ashcroft! Es dauert bestimmt nicht lange.

 

56. INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Raimund steht im Erkerzimmer vor dem Tisch, auf dem die Schreibmaschine steht. Er schaut skeptisch auf das technische Wunderwerk. Dann tritt er an die Schreibmaschine heran und drückt eine der Tasten. Ein heftiger Schlag ertönt. Raimund zuckt zusammen. Er nimmt wieder Abstand vom Tisch. Nach einigen Sekunden beugt er sich wieder nach vorne, wobei er auffallend viel Abstand hält. Er drückt wieder eine Taste. Wieder ein heftiger Schlag. Noch eine Taste. Die Schläge scheinen immer lauter zu werden. Raimund dreht sich zur Seite, schaut durch die Tür in die Küche, wo Erika gerade die Glühbirne der Küchenlampe auswechselt.

ERIKA

Raimund, es ist nur ein technisches Hilfsmittel. Die Schreibmaschine macht nur das, was Du ihr befiehlst.

Raimund nickt wenig überzeugt. Er haut auf mehrere Buchstaben nacheinander. Es rattert. Die Buchstabenblätter haben sich verhakt.

 

56. INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Raimund sitzt am Tisch im Erker. Er zieht mit seinem Füller Tinte auf und beginnt zu schreiben. Die Feder kratzt über gleichmäßig über das Papier.

 

57. INNEN / TAG / ZUHAUSE / KÜCHE

Erika sitzt jetzt am Küchentisch, auf dem zwei Teetassen stehen. Sie hat einen Bleistift in der Hand und einen großen Papierbogen vor sich, auf den sie diverse Zahlen addiert. Unter dem Strich steht ein dickes Minus. Erika schüttelt den Kopf. Raimund tritt mit einer Zigarette in der Hand in die Küche. Er nimmt eine Teetasse und trinkt einen Schluck im Stehen.

ERIKA

Und, wie kommst du voran?

RAIMUND

Es geht so.

Raimund tritt ans Fenster und schaut raus. Der Wind drückt gegen die Scheibe.

ERIKA (ernst)

Raimund, … Raimund, es muss etwas passieren! Verstehst du? Unsere Ersparnisse sind fast weg. Und, und…

Ihr versagt die Stimme. Raimund zieht an seiner Zigarette, er schaut Erika nicht an. Erika sieht ihn von hinten an. 

 … wie soll das werden, wenn das Baby da ist?

 

  1. AUSSEN / TAG / KING’S COLLEGE CHAPEL

Raimund läuft durch die Parkanlage und erreicht die Brücke, die zur imposanten King´s College Chapel führt. Das altehrwürdige Gebäude übermannt ihn.

 RAIMUND

Oh!… What a building!

Mehrere Studenten auf Fahrrädern fahren über am Flussufer entlang, über die Brücke, hin zum King´s College bzw. weg von dort. Raimund nimmt seine Kamera in die Hand, positioniert sich so, dass das Sonnenlicht in seinem Rücken ist, und will abdrücken. Aber die Kamera ist blockiert. Raimund schaut verwundert, dreht die Kamera ein paar Mal herum, findet dann eine Arretierung, die er umständlich löst. Noch einmal bezieht er Stellung. Aber sehr professionell sieht das nicht aus. Er fasst die Kamera mit beiden Händen am Gehäuse an, statt mit einer Hand am Objektiv. Auch knickt er mit den Knien ein bisschen unsicher ein, wohl um den passenderen Bildausschnitt zu finden. Auf die Brücke kommt jetzt von der anderen Seite Kurt, der ihm vom Weiten zuwinkt. Die Kamera klickt zweimal. Dann betritt Raimund die Brücke, die zum King´s College führt. Er begrüßt Kurt.

 

  1. INNEN / TAG / UNIVERSITÄT / GANG

Raimund und Kurt gehen über den Flur. Sie kommen zu einer Tür, auf der „Staff Office“ steht. Kurt klopft an.

 

  1. INNEN / TAG / UNIVERSITÄT / PERSONALBÜRO

Der Dienstleiter überfliegt Raimunds Bewerbungspapiere. Kurt steht etwas Abseits.

DIENSTLEITER

Wissen Sie, unser Rechtssystem unterscheidet sich doch recht deutlich vom deutschen. Sie müssten also erst eine Ausbildung zum Barrister oder Solicitor nachholen, bevor Sie eine Chance auf eine akademische Laufbahn hätten… Zwei, drei Jahre würde das schon dauern.

 

  1. AUSSEN / TAG / BUCHHANDLUNG

Raimund betritt einen Buchladen. Auf der Tür, die sich hinter ihm schließt, steht ein Schild: „Shop Assistent needed!“

 

  1. INNEN / TAG / BUCHHANDLUNG

Das Gespräch zwischen dem Buchhändler und Raimund geht schon eine Weile.

BUCHHÄNDLER

… ja, es gibt einige Studenten und Dozenten der Germanistik-Fakultät, die hier kaufen. Aber das ist nur ein Bruchteil unserer Kundschaft. Und Ihr Englisch scheint mir nicht gut genug, um alle anderen Kunden adäquat zu bedienen!?

 

63. INNEN / TAG / KRANKENHAUSGANG

Raimund raucht, schwitzt, tritt von einem Fuß auf den anderen. Eine Krankenschwester öffnet die Tür.

KRANKENSCHWESTER

Sie können jetzt hereinkommen.

 

64. INNEN / TAG / KRANKENHAUS-ZIMMER

Insert: 30. Oktober 1938

Erika liegt im Bett, in ihren Armen das frisch geboren Baby.

RAIMUND (überwältigt)

Mein Gott…

ERIKA

Nennen wir ihn doch einfach Oliver.

 

  1. AUSSEN / TAG / CAMBRIDGE / RIVER CAM / BRÜCKE AM QUEENS COLLEGE

Erika und Raimund liegen mit ihrem Baby auf einer Wiese. Peter spielt mit einem Ball, den er um das Picknick herum schießt. Im Hintergrund, etwa 50 Meter entfernt, feiern die Studenten den erfolgreichen Abschluss ihres Studiums, indem sie unter Gesang und Gejohle in ihren Sachen von der Brücke in den River Cam springen. Erika und Raimund sind hin- und hergerissen zwischen dem Brabbeln ihres Babys, Peters Ballspiel und der ausgelassenen traditionellen Studentenfeier. Sie lachen und grinsen. Irgendwann schaut Raimund Erika ganz wehmütig an.

RAIMUND

Ich mag England.

Erika schaut zu den Studenten, dann wieder auf ihr Baby.

ERIKA

Ich auch!

Peter schießt den Ball. Er stößt die Thermosflasche auf der Decke um. Just in diesem Moment klatscht ein Student in den Fluss. Dass Wasser spritzt in alle Richtungen.

PETER

Gooooal!

 

66. AUSSEN / NACHT / DEUTSCHLAND

Originalbilder von der Reichskristallnacht: Brennende Synagogen, eingeworfene Fensterscheiden, Juden, die verhöhnt und aus ihren Läden getrieben werden, grölende SA-Gruppen… Im Off hören wir den original BBC-Radiokommentar.

 

  1. INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Der gleiche Abend: Raimund steht seitlich vor dem Radio. Er blickt gedankenversunken auf sein Tagebuchmanuskript. Die gesamte Familie steht oder sitzt im Zimmer und hört schockiert dem Radioreport zu.

RADIOREPORTER

It is unblievable, thousands and thousands of people in the whole country …

 

68. INNEN / TAG / HOME OFFICE

Raimund steht vor dem Schreibtisch eines Beamten. Im Hintergrund steht ein Weihnachtsbaum.

 

BEAMTER

Ihre Aufenthaltsgenehmigung ist fast abgelaufen!

RAIMUND

Deshalb bin ich ja hier. Ich möchte sie verlängern.

BEAMTER

Verlängern? Schon wieder? Warum?

RAIMUND

Ich… ich habe meine Arbeit noch nicht abgeschlossen.

BEAMTER

Sie arbeiten seit fast vier Monaten an e i n e m  e i n z i g e n Zeitschriftenaufsatz?

RAIMUND

Ja!

 BEAMTER

Ihrer Zeitschrift geht es wohl ziemlich gut, was? …

Er unterschreibt und stempelt ein Formular widerwillig.

… Beeilen Sie sich!

 

69. INNEN / NACHT / ZUHAUSE

Raimund sitzt am Schreibtisch und arbeitet. Erika liegt im gleichen Raum im Bett. Sie macht ein Kreuzworträtsel, schaut dabei aber immer wieder auf Raimund. Schließlich legt sie das Kreuzworträtsel zur Seite.

ERIKA

Raimund, wir sind pleite…

 

 

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