Im Hier und Jetzt auf dem Platz des Jenseits
Friedhöfe sind in der allgemeinen Wahrnehmung Orte der Ruhe und Endlichkeit. Viele Menschen betreten sie ungern und sind meist froh, die letzte Ruhestätte der Mitbürger schnell wieder verlassen zu können. Nicht so auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg. Hier begegnet man dem Tod mit einer neuen lebendigen Friedhofskultur. Der Schauspieler Bernd Boßmann gründete das erste und mittlerweile sehr erfolgreiche Friedhofscafé Deutschlands: Finovo.
Bernd Boßmann spielte einst in Filmen von Rosa von Praunheim mit, ist Schwulen-Aktivist, stand unter dem Namen Ichgola Androgyn auf der Bühne und gründete das Theater „O-Ton-Piraten“. Doch seine Bestimmung scheint er auf dem Matthäus-Friedhof in Schöneberg gefunden zu haben. Dort, wo die Brüder Grimm, Graf Staufenberg und die Männer des 20. Juli, der Mediziner Rudolf Virchow oder der Musiker Rio Reiser begraben wurden, eröffnete er 2006 das Finovo.
Bernd Sobolla: Bernd, warum hast Du dein Café Finovo genannt?
Bernd Boßmann: Novo steht für das Neue, und Fin ist das Ende. Ich gehe davon aus, dass etwas nicht einfach aufhört und irgendwann Neues beginnt. Stattdessen trägt das, was sich auflöst, das Neue schon in sich. Darum gibt es nur ein N in Finovo.
Wann hast Du den Alten St.-Matthäus-Friedhof erstmals wahrgenommen?
Ich habe seit 1986 immer um diesen Friedhof herum gewohnt, ihn aber nicht „gesehen“. Dann, etwa 1987/88, haben wir, mein Freund und Schauspielkollege BeV StroganoV und ich, „Pat, Mary und Sandy“ (PMS) aus San Francisco kennen gelernt. Das war eine Gruppe, die Songs der Andrew-Sisters sangen und in Berlin auf Tour waren. Wir entdeckten sie auf der Straße, traten später mit ihnen auf und schossen mit PMS Fotos vor dem Friedhof. Die brauchten wir für unseren Dragstore (Accessoires für Drag-Queens) in der Monumentenstraße. Für diese Fotosession nutzten wir als Hintergrund die Friedhofsmauer. Der Efeu war gerade erst gesät worden. Heute wuchert er über die ganze Wand. Etwas später dann wurden die ersten Freunde von uns hier beigesetzt, so dass ich öfter auf dem Friedhof war und ihn so allmählich kennenlernte.
Nur weil man einen Friedhof kennenlernt, macht man nicht unbedingt ein Café dort auf.
Sicherlich nicht. Dazwischen lag auch noch meine Kölner Zeit. Ich spielte sechs Jahre lang, von 1994 bis 2000, in Köln Theater, hatte aber seit der Wendezeit immer die Idee, mit Freunden auf einem kleinen Bauernhof oder Ähnlichem außerhalb der Stadt zu wohnen. Das wollten meine Freunde aber nicht. Zwischenzeitlich lebten wir stattdessen auf einem Hausboot. Als ich wieder nach Berlin zurückkehrte, kam mir die Idee, einen Schrebergarten zu übernehmen. Das war den anderen aber zu anstrengend. Schließlich schlug ich vor, dass wir die Patenschaft für ein Grab übernehmen sollten. Da sprangen mir die anderen zunächst mit dem Arsch ins Gesicht. Als sie aber über die Sache nachdachten, fanden sie die Idee doch ganz gut.
Wie müssen wir uns eine solche Patenschaft vorstellen?
Wer eine Patenschaft für alte Gräber übernimmt, muss sie pflegen und kann größere Grabstellen, die Zäune oder Steinumrandungen haben, restaurieren. Damit erwirbt der Pate das Recht, (Ist das ein Rechts-Anspruch, der sich aus einem Vertrag ergibt?), an gleicher Stelle beerdigt zu werden. Mein Freund Ovo und ich übernahmen eine Patenschaft, weil wir ein Freundschaftsgrab wollten, um hier gemeinsam irgendwann unter der Erde zu liegen. Fortan waren wir öfter auf dem Friedhof. Dabei liefen wir immer an dem leeren Haus vorbei, das am Eingang des Friedhofs steht. „Was für eine Schande“, dachte ich, „mitten in der Stadt steht ein Haus leer und verkommt. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Da müsste man ein kleines Café aufmachen und einen Blumenladen!“ Denn einen Blumenladen gab es nicht mehr. Das waren anfangs allerdings eher flüchtige Gedanken. Aber als Ovo 2005 starb, tauchte die Idee wieder auf. Zudem fiel mir auf, dass immer derer gedacht wird, die tot sind. Aber niemand denkt an die, welche den Friedhof pflegen. Die Toilette war hier zum Beispiel das Letzte – ein Plumpsklo, das bestialisch stank. Anschließend wurde ein Dixi-Klo aufgestellt, was ich auch unmöglich fand. Ich schriebe dann einfach ein Konzept und bewarb mich damit bei der Friedhofsverwaltung.
Hatte die Friedhofsverwaltung keine Vorbehalte, dass hier ein Café eröffnet wird? Einige Leute könnten das als pietätlos empfinden.
Pietät!!!? Pietät ist das dämlichste Wort, das es gibt. Das ist eine große Ausrede, die benutzt wird wie „Schach matt!“ Denn mit diesem Wort wird immer jede Diskussion beendet. Eigentlich müsste man das Wort verbieten. Ich war mal auf einer Podiumsdiskussion zum Thema: „Tuchbeisetzung, sargfreie Beisetzung?“ Da tauchte auch der Begriff Pietät auf und ich sagte: „Warum fängt die Pietät eigentlich erst nach dem Tod an? Ein Penner liegt zehn Jahre unter der Brücke – auf Pappdeckeln und jeder spuckt auf ihn. Dann stirbt er. Und plötzlich fängt die Pietät an? Dann kriegt er das, was er zehn Jahre gebraucht hätte – nämlich ein anständiges Holzbett.“ Was haben sich die Leute echauffiert! Wie unverschämt das doch von mir wäre und so weiter. Das Wort Pietät sollte verboten werden. Ich glaube, dass es einen natürlichen Respekt gibt. Jedenfalls empfinde ich es so, auch wenn die Grenzen da zuweilen etwas verschwimmen. Ein Verwalter schlug mir einmal vor, dass man zu einem Fest, das ich im Finovo veranstaltete, vor der Kapelle grillen könnte. Da sagte ich nur: „Das geht überhaupt nicht. Vor der Kapelle wird niemals gegrillt!“ Für mich darf auch niemand mit einem Bier in die Kapelle gehen.
Du haste eine sehr interessante Biografie: Du bist gelernter Krankenpfleger, warst auf der Akrobatik- und Schauspielschule. Hast dann viele Jahre Filme gedreht und Theaterarbeit gemacht. War die Gründung des Cafés für dich auch ein Schritt weg von der Kunst?
Ne, ich habe ja danach auch noch ein Theater aufgemacht: 2009 habe ich das Theater „O-Ton-Art“ mit den „O-Ton-Piraten“ gegründet. Für mich liegen Kunst oder Kultur und Soziales ganz eng beieinander und ergänzen sich verdammt gut. Das ist auch daran zu sehen, dass es in Krankenhäusern Clowns gibt. Da sind viele Artisten, Schauspieler, Künstler dabei, und es handelt sich um ein soziales Milieu.
Bist Du selber noch als Schauspieler aktiv?
Ich pausiere seit etwa zwei Jahren. Aber ich schließe nicht aus, dass ich wieder mal was mache. Allerdings bewerbe ich mich nie, lehne die meisten Angebote ab oder schicke andere Leute zum Casting. Im Moment habe ich keine einfach keine Lust.
Du hast vor etwa neun Jahren das Café gegründet. Wie hat sich das Finovo im Laufe dieser Zeit verändert?
Das Café hat sich gar nicht verändert.
Hat sich das Publikum nicht verändert? Die Atmosphäre?
Es ist von Anfang an ausschließlich positiv angenommen worden. Das Schöne ist, dass es wirkt, als wäre es schon immer hier gewesen. Einmal entdeckten uns zwei ältere Damen: „Guck mal, da drin ist noch ein ganz altes Café versteckt. Da gehen wir jetzt rein!“ Ein anderes Mal stand eine Frau vor dem Café und sagte: „Niemals würde ich in ein Café auf einem Friedhof gehen!“ Kurze Zeit später war sie Stammgast.
Der Titel auf der Finovo-Website lautet: „Café, Blumen und mehr“. Denn es gibt auch Gesprächsrunden, Lesungen und Ausstellungen. Ist das „Café Tod“ ebenfalls eine Lesungsreihe?
Nein, es kommen Leute, die selbst betroffen sind und das einfach ausdrücken möchten. Menschen, die jemanden verloren haben oder selber Nahtod-Erfahrung hatten. Leider ist dieses Thema sehr mit Tabus besetzt. Außerhalb einer solchen Gruppe möchte kaum ein Mensch darüber sprechen. Bei den meisten reicht es schon, wenn sie einmal ganz frei am Stück – ohne unterbrochen zu werden – ihre Situation schildern. Das, was ihnen widerfahren ist, und wie sie es empfinden. Danach fühlen sich die meisten frei. Dann wissen sie: „Es gibt andere Menschen, die das auch erlebt haben, die auch darüber reden, ihre Emotionen ausdrücken und nicht permanent geblockt werden.“ Sonst kommt von außen immer nur: „Nun reicht es aber! Höre mal auf damit! Das Leben muss weiter gehen.“ Diese ganzen Floskeln. Das Bedürfnis, sich wenigstens einmal aussprechen zu können, wird mit dem Gesprächskreis „Café Tod“ geboten. Viele kommen auch wirklich nur einmal.
Bist Du der erste, der einen Gesprächskreis „Café Tod“ angeboten hat?
Nein. Als wir das Finovo gründeten, war es das erste Friedhofscafé in Deutschland. Es gab aber schon vor uns Leute, die ein „Café Mortem“ anboten, einen Gesprächskreis zum Thema Tod. Wir nennen es im Finovo „Café Tod“. Die Idee zum „Café Tod“ hatte ich von einer Portugiesin, die das wiederum in der Schweiz erlebt hatte. Ich führte das „Café Tod“ im Finovo vor drei Jahren mit der Bestatterin Angela Fournes ein. Heute leitet sie es aber allein. Die Berichte ähneln sich, und ich kann nicht ständig Geschichten über den Tod hören.
Gibt es dazu einen festen Termin?
Es ist in der Regel ein Tag im Monat. Der genaue Termin ist im Internet zu finden. Das gilt auch für Lesungen zum Thema. Wir hatten letztens eine Lesung von einer Mutter, deren Sohn Suizid begangen hat. Der Sohn schrieb Poesie und malte. Die Mutter schreibt ebenfalls – Lyrik und Poesie. Und sie hat dann Bilder des Sohns in ihren Text eingefügt. Das war ein sehr interessanter Lesenachmittag zum Thema: „Freitod – Suizid“.
Ihr habt auch spezielle Plätze auf dem Friedhof für verstorbene Kinder, die sogenannten Sternenkinder.
Die Eltern der Sternenkinder treffen sich hier einmal im Monat. Sie bieten Gruppen für Eltern an, die ihre Kinder vor kurzem verloren haben. Das ist eine Art Forum. Es gibt im Finovo aber auch ganz andere Aktivitäten: Einmal im Monat findet hier z.B. eine Hartz IV-Beratung statt. Sogar Handarbeitsgruppen treffen sich hier regelmäßig. Das Café ist fast eine Art Gemeindezentrum.
Was war für dich die interessanteste Erfahrung der letzten Jahre?
Oh, da gibt es so viele – von ganz traurigen bis hin zu sehr schönen. Einmal kam eine Frau mit einer Freundin. Sie war wunderbar. Sie sagte zu mir: „Damals haben wir bei dir meinen damaligen Lebensabschnittsgefährten beigesetzt. Das war so schön. Ach, schade, dass man das nicht wiederholen kann!“ Fand ich süß. Oder in den Blumenlanden kam ein Mann: „Ich hätte da gern ein paar Blumen.“ „Was soll es denn sein?“ frage ich ihn. Daraufhin er: „Ach, muss nichts Besondere sein. Ist nur für meine Frau.“
Das waren eher heitere Situationen. Erlebst du bei Kindern keine Berührungsängste?
Im Bereich der Trauer gab es viele bewundernswerte Momente. Ich betreue beispielsweise auch Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Darunter war eine Familie, deren Mutter allein erziehend war. Sie hatte einen Jungen von sieben, acht Jahren und eine kleine Tochter. Die Mutter war wirklich total fertig. Ich glaube sie kam aus Polen oder Ungarn. Ihr Kleiner hat sie so getröstet, da kamen mir die Tränen. Ich habe noch nie einen so tollen Tröster gesehen wie diesen Sohn. Die Mutter kniete auf dem Grab, er hat sie zauberhaft umarmt und ihr wunderbar zugeredet. Das sind Sachen, die sind unvergesslich. Besonders bei Geschwistern gibt es Ähnliches öfter. Ich finde es schön, wenn sie bei den Beerdigungen dabei sind. Auch wenn sie noch sehr klein sind. Denn sie können die Situation in aller Klarheit wahrnehmen und sich von ihrem verstorbenen Geschwisterkind verabschieden.
Oft wird so getan, als müsste man die Kleinen vor einem Schock schützen. Ich erlebe es eher so, dass die Kleinen keine – wortwörtlich – Berührungsängste vor Verstorbenen haben. Die gehen da hin und sagen: „Oh, ist ganz schön kalt, die Oma!“ Bei älteren Kindern sieht es allerdings anders aus. Wenn die Kinder in die Pubertät oder Vorpubertät kommen, dann stehen andere Sachen im Vordergrund. Da haben die betroffenen Geschwisterkinder eher Schwierigkeiten. Wir haben hier auch eine spezielle Bank für das Projekt „KIKI“ (Kinder und Kirchhof). Die habe ich vor sechs oder sieben Jahren mit meinem Vetter gebaut. Da passt eine ganze Kindergartenklasse drauf, wenn ab und an dann Gesprächsrunden mit Kindern stattfinden. Wir bieten das Kindergärten und Schulklassen an. Da gibt es oft die Scheu, mit Kindern über den Tod zu sprechen. Wenn ein Kind aus einer Kindergartengruppe Geschwister verloren hat, finde ich es wichtig, dass das Kind im Idealfall mit seiner Gruppe kommt. Ich sage immer: „Kommt einfach, wir machen einen kleinen Spaziergang, setzen uns später auf die Bank, können dann zusammen was trinken und ein bisschen miteinander sprechen.“
Sind die Eltern der Sternkinder eine feste Gruppe?
Das ist schon eine wichtige und große Institution, zu der über 400 Elternpaare gehören.
Die haben ein eigenes Internetportal, wo man sich auch beraten lassen kann. Zudem gibt es auch interne Kommunikation, Bekanntschaften, Freundschaften. Ein kleiner Teil davon trifft sich im Finovo einmal im Monat. Ich gehöre der Gruppe aber nicht an. Ich bin kein Vater der Sternkinder. Ich vermittle nur in der Erstsituation, dass den Eltern geholfen wird, wenn sie nicht weiter wissen, und helfe dann bei der Organisation der Beisetzung.
Was für Zukunftspläne hast Du?
Ich bin gerade dabei, mit Crowdfunding eine Limonade auf den Markt zu bringen – Berlinade. Der Verkauf der Limonade soll explizit Projekte wie Sternkinder, Straßenkinder und Flüchtlingskinder unterstützen. Denn Kinder sind für mich die Basis der Menschheit. Wenn man mit Kindern gut umgeht, kann man sie so sozialisieren, dass sie auch wieder soziale Projekte machen. Darum sind Kinder für mich das Allerwichtigste.
Ebenfalls auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof / Friedhof zu sehen
Das Denkmal positHIV erinnert an die Opfer der AIDS-Krankheit. Die temporär Klanginstallation „Das Efeu Parlament der Erinnerung“ lässt auf Knopfdruck Stimmen verstorbener Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller erklingen. Darunter die von Margot Kippenberger, Verfolgte des Nationalsozialismus, des Schwulenaktivisten Manfred Salzgeber oder der Schriftstellerin und Kämpferin für sexuelle Befreiung Helga Goetze. Über ihr Credo „Ficken ist Frieden“ sprach sie in den 1980er und 1990er Jahren fast täglich vor der Gedächtniskirche.