Marie-Castille Mention-Schaar & Ahmed Drahmé – „Die Schüler der Madame Anne“

„Ich fand es fast bizarr, dass ein junger Typ etwas Positives über die Schule schreibt“

Paris im Jahre 2009: In den Schulen der banlieue herrscht Resignation und Hoffnungslosigkeit. Die Zahl der Migrantenkinder ist extrem hoch, die Chance, eine Ausbildung zu bekommen, gering, die Fähigkeit, das Abitur zu erlangen, wird vielen abgesprochen, das Aggressionspotential steigt kontinuierlich. Doch eine kleine Schule leistet Widerstand, oder genauer gesagt ist es die Geschichtslehrerin Anne Anglès am Léon Blum Gymnasium, die sich dem Niedergang entgegenstellt. Sie motiviert ihre 11. Klasse am „Nationalen Wettbewerb über Widerstand und Deportation“ teilzunehmen. Anfänglich stehen die Schüler der Idee skeptisch gegenüber, dann wird die Teilnahme für viele zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar hat diese wahre Geschichte verfilmt. Das Werk trägt den Titel „Die Schüler der Madame Anne“, es hat bereits 700.000 Besucher in die französischen Kinos gezogen und startet jetzt in Deutschland. Bernd Sobolla hat mit der Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar und Hauptdarsteller und Drehbuchautor Ahmed Dramé gesprochen, der zugleich Schüler der Klasse war.

 

Bernd Sobolla: Marie-Castille, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie zum ersten Mal das Drehbuch von Ahmed Dramé lasen?

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Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar.

Marie-Castille Mentin-Schaar: Man muss von einem Drehbuch-entwurf sprechen, denn es waren nur etwa 50 Seiten. Aber da war zunächst die positive Stimmung der Story, die Tatsache, dass sich alles in einem Gymnasium abspielt und vor allem auch von einem Lehrer handelt. Im Skript war es zunächst ein Lehrer und keine Lehrerin. Dann gab es zwar einen Schülerwettbewerb, aber in ihm ging es nicht um ein Geschichtsthema. Außerdem spielte der Wettbewerb eine untergeordnete Rolle. Ich traf mich dann mit Ahmed, der die Geschichte auf dem Gymnasium selbst erlebt hatte. Er hatte das Skript eher so für sich selbst geschrieben. Es war eine Art Test, ob er ein Drehbuch schreiben könnte. Und er wollte von mir hören, was er verbessern könnte. Als ich die Story las, war ich fasziniert von der positiven Kraft, die da vibrierte, und ich wollte erfahren, woher sie kam. Denn ich fand es fast bizarr, dass ein junger Typ etwas Positives über die Schule schreibt.

Der Wettbewerb war kein Geschichtswettbewerb?

Im wirklichen Leben schon. Aber das erfuhr ich erst, als ich mich mit Ahmed traf. Und ich fragte ihn: „Warum hast Du die Story geschrieben?“ Und dann erzählte er mir, was er mit seiner Klasse erlebt hatte. Dass seine damalige Geschichtslehrerin (Madame Anglès) dafür gesorgt hatte, dass die Klasse an dem Wettbewerb (“Le conquer national de la resistance et la deportation”) teilgenommen und den Nationalpreis gewonnen hatte. Schließlich erzählte er mir alles, was man jetzt im Film sieht. Das hatte dann nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Skript zu tun. Die echte Story war das, was mich wirklich faszinierte. Und ich sagte: „Ahmed, wenn Du willst, dann schreiben wir das alles noch mal neu und zwar so, wie Du es wirklich erlebt hast.“

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Nach einer wahren Begebenheit: Malik (Ahmed Dramé, Drehbuchautor) und seine engagierte Klassenlehrerin Anne Gueguen (Ariane Ascaride) werden zu einem unschlagbaren Team. (photo © Neue Visionen Filmverleih)

Warum haben Sie den Film im Dokumentarfilmstil gedreht, mit vielen Nahaufnahmen und oft mit der Handkamera?

Es war nicht so, dass ich mich für einen Dokumentarstil entschlossen hätte, sondern ich wollte, dass die Zuschauer ganz nah am Geschehen sind. Ich wollte, dass sie das Gefühl haben, direkt neben den jungen Männern und Frauen zu stehen. Deshalb die Kamera auf der Schulter und der Einsatz von mehreren Kameras gleichzeitig, um die unmittelbaren Reaktionen einzufangen und das Ganze möglichst oft als Nahaufnahme. Ich war immer fasziniert davon, wie die Schüler aussehen, ihre Ruhe, ihr Aufbäumen, die Art wie sie seufzen oder zueinander schauen. All das wollte ich einfangen.

Meine Lieblingsfigur ist der stille Theo, der nur zweimal etwas sagt. Steht er eher für sich oder für eine bestimmte gesellschaftliche Schicht?

Theo war in Ahmeds Klasse, allerdings war sein Name Leo. Er war ein ganz stiller Typ. Ich finde es hoch interessant, dass viele Leute gerade nach ihm fragen. Es scheint wohl so zu sein, dass es in unseren Klassenräumen viele Theos gibt. Also es gibt in jeder Klasse zumindest einen Theo. Vielleicht nicht ganz so stumm wie Theo im Film, aber einer, der isoliert ist und nicht so vital wie die anderen wirkt.

Sie haben sich auch mit der Lehrerin Anne Anglès in Verbindung gesetzt. Sie soll sehr erstaunt gewesen sein, als sie davon hörte, dass sie einen solchen Eindruck auf die Schüler gemacht hatte.

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Ärger vorprogrammiert: Nicht alle wollen sich von der mutigen Madame Anne (Ariane Ascaride) etwas sagen lassen. (photo © Neue Visionen Filmverleih)

Sie war zumindest sehr erstaunt, dass sie Ahmed so nachhaltig beeindruckt hatte. Denn Ahmed gehörte nicht gerade zu den Besten in ihrer Klasse. Man muss sagen, das Malic, den Ahmed spielt, und Ahmed selbst sich doch unterscheiden. Ahmed provozierte nicht alle wie Malic. Madame Anglès wunderte sich aber auch, dass Ahmed sich aufgerafft hatte, die Story zu schreiben. Das hätte sie ihm vielleicht nicht zugetraut.

Unterstützte Anne Anglès den Prozess des Drehbuchschreibens?

Ich habe sie sozusagen engagiert. Erst interviewte ich sie mehrfach. Dann wollte ich an ihrem Unterricht teilnehmen, beobachten, wie sie mit den Schülern kommuniziert. Sie störte sich auch nicht an meiner Anwesenheit. Zwei Minuten nach Stundenbeginn war sie völlig in ihre Arbeit involviert. Ich konnte sie also gut beobachten. Und dann, als ich das Drehbuch schrieb, fragte ich sie oft: „Wie klingt das hier? Würden Sie das so sagen?“ Das machte ich sogar noch während der Dreharbeiten. Da rief ich sie dann an, wenn ich z.B. Probleme mit einem Dialog hatte. Es gibt in dem Film übrigens eine Menge echter Lehrer. Das wollte ich unbedingt so haben. Denn Lehrer haben eine bestimmte Art zu reden, die sie von den meisten anderen Menschen unterscheidet. Sie sprechen meist sehr schnell und haben wie jeder Handwerker bestimmte Abläufe ihrer Arbeit verinnerlicht. Deshalb wollte ich echte Lehrer dabei haben.

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Die Schüler der Madame Anne: Das gemeinsame, größere Ziel ermutigt sie zu ihrer eigenen und selbstbewussten Stimme. (photo © Neue Visionen Filmverleih)

Bei dem Wettbewerb, an dem die Klasse teilnimmt, geht es um Widerstand und Deportation im Zweiten Weltkrieg in Frankreich. Hätte ein anderes Thema eine ähnliche Sogwirkung entwickelt? Etwa Napoleon und der Niedergang Frankreichs?

So eine Frage ist natürlich immer schwer zu beantworten. Wer kann das schon sagen? Ich kann sagen, dass mich nicht nur das Thema des Wettbewerbs anzog. Für die Lehrerin ging es darum, dass die Schüler erstmals gemeinsam an einem Projekt arbeiten, dass sie etwas als Kollektiv schaffen. Das war ihr wichtig. Dann natürlich auch das Thema selbst. Das Thema hatte eine besondere Wirkung, war wichtig und interessant. Insbesondere weil die Schüler über junge Menschen recherchierten – über Kinder und Heranwachsende in Konzentrationslagern. Was ich besonders an der Arbeit von Madame Anglès bewunderte, war die Tatsache, dass sie die individuelle Arbeit auflösen und die Klasse zusammenbringen wollte. Sie wusste keineswegs, ob sie dabei erfolgreich sein würde. Sie wollte einfach ein Projekt verfolgen, in dem die Schüler zum ersten Mal gemeinsam vereint wären.

 Es gelang Ihnen, den Holocaust-Überlebenden Léon Zyguel ins Filmprojekt zu holen, der auch 2009 vor der Klasse über seine Erlebnisse gesprochen hatte. Wie war die Atmosphäre beim Drehen, als er dazu kam und sich selbst spielte?

Es war sehr schwierig, Léon für diesen Film zu gewinnen. Aber Ahmed hatte mir von dem großen Eindruck erzählt, den Léon Zyguel auf ihn und die Klasse gemacht hatte, und das bestätigte sich bei den Dreharbeiten. Der Wettbewerb hatte die Klasse zwar schon etwas motiviert, aber als dann Léon auftauchte, waren sie plötzlich Feuer und Flamme. Es gab ein Davor und ein Danach. Das war der Dreh- und Angelpunkt für die Klasse, und dieser Moment musste natürlich auch in den Film. Ich traf mich mit Léon und wollte, dass er dazu stößt und Zeuge im Film wird. Um alles möglichst realistisch zu machen, drehten wir auch in Ahmeds ehemaliger Schule. Natürlich hätte diese „Rolle“ auch ein anderer Überlebender übernehmen können, aber mir erschien es am besten, dies von Léon „spielen“ zu lassen. Zumal Léon diese unglaubliche Gabe hat, mit den Leuten zu sprechen. Er schaut dich an und die Art, wie er deinen Arm greift, zieht jeden in seine Erzählungen hinein. Léon Zyguel war skeptisch gegenüber einem Film, der ins Kino kommt und somit auch vermarktet werden muss. Das Kommerzielle gefiel ihm nicht und ich musste ihn überreden: „Léon, das war Ihre Mission, die Sie in den letzten 50 Jahren erfüllt haben. Sie sind in die Schulen gegangen und haben von Ihrer Reise und den Erfahrungen berichtet. Und auch davon, wie die Schüler von den Erfahrungen eines Überlebenden profitieren können. Das tun Sie auch jetzt, nur in einem viel größeren Maßstab. Denn diesmal werden Sie zu viel mehr Kindern sprechen.“ Als er später den Film gesehen hat, hat er mich verstanden.

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Ahmed Dramé: Der ehemalige Schüler des Léon Blum Gymnasiums ist heute Schauspieler und Drehbuchautor.

 

Bernd Sobolla: Ahmed Dramé, stimmt es, dass Sie durchschnittliche Noten hatten, aber die Lehrer meinten, dass Sie Ihr Abitur nicht schaffen würden?

Ahmed Dramé: Das stimmt. Es sah zunächst nicht gut aus für mich. Meine Lehrerin (im Film Madame Gueguen) heißt im wirklichen Leben Anglés. Sie war sehr motiviert, alle jungen Leute in unserer Klasse nach vorn zu bringen. Aber wir standen irgendwie wie unter Strom. Oft explodierte die Klasse fast, z.B. als Madame Anglès drei Wochen fehlte, weil ihre Mutter verstorben war. Wir bekamen eine Vertretungslehrerin, mit der es sehr schwierig war unter diesen Bedingungen zu lernen.

Eigentlich sollten doch alle Schüler, die nach der 10. Klasse weiter machen, motiviert sein. Es geht doch um ihr Abitur.

Normale Leute vielleicht. Aber ich bin immer nur zur Schule gegangen, um meine Freunde zu treffen oder um ein bisschen Spaß zu haben. Aber nicht, weil ich lernen wollte. Auch wenn das wahrscheinlich falsch war.

Was veränderte Marielle-Castille an Ihrem Drehbuch?

Da war zunächst das Thema des Wettbewerbs. In meinem Drehbuchentwurf ging es nicht um den Wettbewerb über Widerstand und Deportation, sondern um einen Wettbewerb über die Kunst des Schreibens. Wenn du über eine Sache wie Widerstand und Deportation sprichst, musst du sehr genau sein. Es ist ein wichtiges und sensibles Thema. Als ich Marie-Castille zum ersten Mal traf, erzählt ich von meiner Geschichte, meiner Klasse und dem Eindruck, den Léon bei mir hinterlassen hatte. Und sie fragte mich, warum ich nicht die Geschichte über den echten Wettbewerb erzählte. Ich gab ihr recht.

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Es heißt, Ihre Klasse sei zunächst ziemlich unmotiviert gewesen und musste erst einmal lernen, wie man arbeitet. Wie lange dauerte der Prozess, bis Sie verstanden, dass es um etwas Größeres ging?

Etwa vier oder fünf Monate. Und als wir dann den Überlebenden Léon Zyguel trafen, war nichts mehr wie zuvor. Sein Einfluss war real. Er erzählte uns seine Geschichte, wie er als 15-jähriger nach Auschwitz kam. Damals war auch ich genau 15 Jahre alt. Von daher konnte ich mich mit ihm identifizieren. Ich versetzte mich in seine Situation und sagte mir: „Whow, Lèon ist großartig. Er ist ein Überlebender. Ich habe großen Respekt vor ihm.“ Das, was Léon im Film zeigt, kann nur er. Das hätte kein Schauspieler geschafft. Léon hat eine besondere Verantwortung übernommen, in dem er jungen Leuten seine Geschichte erzählt. Das ist außergewöhnlich.

Wäre das Projekt so erfolgreich verlaufen, wenn es ein anderes Thema gewesen wäre?

Nein. Das Thema und der Eindruck waren schon ungewöhnlich. Das Thema hat mit dazu beigetragen, dass es diese Veränderung in der Klasse gab. Denn es ging um Solidarität. Darüber mussten wir natürlich auch reden. Am Anfang des Wettbewerbs haben wir kaum miteinander gesprochen. Im Gegenteil, wir konkurrierten miteinander. Aber das Konkurrenzdenken trat dann in den Hintergrund und wir verstanden, dass es besser läuft, wenn man zusammenarbeitet.

Was hat diese Erfahrung bei Ihnen verändert?

Diese Schulerfahrung hat mein Leben verändert. Ich übernahm die Verantwortung für mein eigenes Leben. Viele Leute sagen heute: „Du bist jetzt ein Schauspieler und die Schule war wohl kaum wichtig für dich.“ Aber ich sage ihnen dann: „Sie war sogar sehr wichtig für mich. Denn wenn ich an dem Wettbewerb nicht teilgenommen hätte, hätte ich die Story nicht aufgeschrieben und ich wäre jetzt nicht Schauspieler. Also die Schule war ein sehr wichtiger Aspekt in meinen Leben.

Am 5. November startet „Die Schüler der Madame Anne“ von Marie-Castille Mention-Schaar in den Kinos.