Noémi Merlant & Naomi Amarger: „Der Himmel wird warten“

 

Zum Kinostart am 23. März 2017

Liebe und Dschihad via Internet

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„Der Himmel wird warten“: Sonia (Noémie Merlant) auf der Suche nach einem Weg zurück in ihr Leben. © Neue Visionen Filmverleih

Die französische Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar („Die Schüler der Madame Anne“) erzählt wie zwei ganz normale Mädchen via Internet von IS-Aktivisten kontaktiert und schließlich rekrutiert werden. Der Film rekonstruiert den Anwerbungsprozess und die familiäre Entfremdung: Sylvie lebt allein mit ihrer Tochter Mélanie. Sie verbringen viel Zeit miteinander und Sylvie ist stolz auf das enge Verhältnis, das sie zu ihrer Tochter hat. Doch irgendwann begegnet Mélanie im Internet einem Jungen, der ihr regelmäßig schreibt, ihr Komplimente macht und sie schließlich fragt, wie sie es hält mit der Religion. Eines Tages ist Mélanie verschwunden, um sich in Syrien dem IS anzuschließen. Catherine und Samir geht es ähnlich: Sie sind die Eltern der 17-jährigen Sonia, eine glückliche Familie, die gemeinsam den Alltag meistert. Doch zurück aus den Sommerferien, wird ihr Haus von der Polizei gestürmt und Sonia unter Arrest gestellt. Sonia hat sich dem Dschihad angeschlossen, bereit für einen Anschlag in ihrem Heimatland. Die Eltern sind erschüttert, wie fremd ihnen ihre Töchter geworden sind. Doch sie sind bereit, alles zu tun, um sie wieder zurückzubekommen. Ein Gespräch mit den beiden Hauptdarstellerinnen Noémi Merlant (Sonia) und Naomi Amarger (Mélanie).

 

Bernd Sobolla: Noémi Merlant, hatten Sie Hemmungen, eine potentielle Selbstmordattentäterin zu spielen, oder haben Sie sich einfach nur über die Filmrolle gefreut?

Noémi Merlant: Um diese Rolle spielen zu können, habe ich schon einige Monate der Vorbereitung gebraucht. Denn ich spiele ja Sonia, die vom IS angeworben wird bzw. die sich auf dem Weg der Rekrutierung befindet. Als es dann zum Dreh kam, musste ich alles vergessen, was ich vorher gelernt hatte. Denn das Mädchen, das ich spiele, agiert nicht mehr rational.

Nicht schon alles im Vorab wissen

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Naomi Amerger spielt die 16-jährige Mélanie, die sich über das Internet in einen Jungen verliebt, der ihr das Gefühl gibt, etwas ganz Besonderes zu sein.

Naomi Amarger: Mir ging es bei dem Eindringen in die Rolle und dem Verstehen der Figur ähnlich wie Noémie. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man angeworben werden kann. Und ich wollte, dass das gut, d.h. so authentisch und glaubhaft herüber kommt wie möglich. Bei mir lief der Dreh etwas anders ab als bei Noémie. Es war der Wunsch der Regisseurin, dass ich Schritt für Schritt in die Rolle  eindringen und nicht schon alles im Voraus wissen sollte. Ich sollte auch noch ich selber sein und instinktiv beim Spielen wirken. So entdeckte ich allmählich, was mit Mélanie passiert.

Handelt es sich bei der Geschichte um einen konkreten Fall, der nachgespielt wird oder eine Zusammenfassung ähnlicher Fälle?

Noémie Merlant: Der Film basiert auch echten Fällen, wobei es nicht genau diese Konstellation der beiden jungen Frauen gab, die im Film rekrutiert werden. Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar hatte im Vorfeld viele Familien und Jugendliche kontaktiert, die in eine solche Situation geraten waren. Sie hat sie interviewt und eine Dokumentation erstellt. So sind letztlich diese beiden jungen Frauen eine Zusammenführung unterschiedlicher Schicksale.

Naomi Amarger: Eigentlich ist alles sehr reell. Als es die erste Aufführung des Filmes gab – das war vor ungefähr 30 jungen betroffenen Mädchen und ihren Familien – haben diese gesagt, dass sie sich total in den Rollen von Sonia und Mélanie wieder erkennen würden.

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Catherine (Sandrine Bonnaire) und Samir (Zinedine Soualem) sind bereit, alles zu tun, um ihre Tochter wieder zurückzubekommen. © Neue Visionen Filmverleih

Fehlende Spiritualität, Konsum und Ungerechtigkeit

Wie hat Marie-Castille Mention-Schaar Sie auf die Rollen vorbereitet? Und welchen Einfluss hatten die Attentate von Paris und Nizza?

Noémie Merlant:  Die bereits erwähnten betroffenen Familien hatte die Regisseurin durch das Hilfezentrum von Frau Bouzar kennengelernt, eine Anlaufstelle für Eltern, deren Kinder vom IS kontaktiert wurden. Sie stellte uns viele Dokumente zur Verfügung und stellte den Kontakt zu den Familien her. So konnte Marie-Castille  einen authentischen Eindruck gewinnen, den sie uns vermittelt hat. Ich traf dann im Laufe meiner Vorbereitung ein junges Mädchen, das sich im Prozess der Endradikalisierung befand. Mit ihr hatte ich einen intensiven Austausch: Wir sind uns sehr nahe gekommen. Sie hat mir z.B. beigebracht, wie man betet und wie der Prozess ihrer Anwerbung ablief. Das hat sie auch aus dem Wunsch heraus gemacht, dass das anderen nicht auch passieren soll. Für dieses Mädchen gab es mehrere Gründe, warum sie sich von dem Islamisten angesprochen fühlte: Sie hatte das Gefühl, dass es heute keine Spiritualität mehr gäbe, dass es in unserer Gesellschaft nur ums Konsumieren gehe und viel Ungerechtigkeit gäbe. Wobei das alles Fragen sind, die ich mir auch stelle. Nach dem entsetzlichen Attentat in Paris waren wir noch aufgewühlter, und ich habe mir die Frage gestellt: „Bin ich jetzt überhaupt noch in der Lage, das alles authentisch rüber zu bringen?“ Andererseits empfanden wir auch eine starke Wut. Wir wollten die Menschen, die so etwas machen, bekämpfen. Und das ist auch in unseren Film eingeflossen.

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Verschwörerische Symbolik: Mélanie (Naomi Amarger) will ihren Freunden begreiflich machen, wie sie manipuliert werden. © Neue Visionen Filmverleih

Sie will alles richtig machen

Naomi, wir erleben Sie als Mélanie, die die Gebetsrituale noch stärker betont, als ihr muslimische Freundin. Warum ist Mélanie so streng mit sich selbst?

Naomi Amarger: Der erste Kontakt ist ja virtuell. Die Anwerber des IS locken die jungen Frauen ja übers Internet an. Die Religion kommt erst viel später; sie tritt in Erscheinung, wenn die Mädchen von Familie, Schule und Freunden abgetrennt sind und sich bereits in die islamistische Gruppe integrieren. Dann tritt der virtuelle Freund in Aktion und bekniet sie zu konvertieren. Sie tut das dann aus Liebe oder um zu gefallen, um alles ganz richtig zu machen, was er ihr beibringt. Dabei ist sie strikter als ein Mädchen, das aus einer muslimischen Familie kommt. Sie ist mit sich selbst so streng, weil sie alles richtig machen will.

Das eine ist, sich zu verlieben und sich irgendwo zu treffen. Bei Mélanie bleibt es eine Online-Beziehung, und dennoch verspricht sie sich diesem fremden Mann. Können Sie Mélanie da noch verstehen?

Naomi Amarger: Also für einen fremden Mann in ein fremdes Land zu gehen, das kann ich persönlich nicht nachvollziehen. Aber dass man sich in jemanden verlieben kann, den man nicht physisch vor sich hat und kennt, das durchaus. Mélanie tauscht mit ihm ja schriftlich Gedanken und Gefühle aus. Zum Beispiel findet er Worte, die sie sehr berühren. Sie reden über die gleichen Träume. Und da ist das Virtuelle manchmal fast eine Erleichterung. Dabei kann man sich durchaus verlieben. Das kann schneller gehen als in der Wirklichkeit. Es geht schneller und einfacher, wenn man in seinem Zimmer sitzt. Denn dann ist man eher bereit, sich Geständnisse zu machen. Und im Fall von Mélanie ist auch die Großmutter gestorben. Also sie leidet und trauert. Und er findet die richtigen Worte. Das kann ich mir sehr gut vorstellen…

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Falsche Antworten geben ein Gefühl der Sicherheit

Noemi, Sonia wirkt in ihrer Verzweiflung, nicht sterben zu dürfen, fast manisch. Was spielt sich da im Innern von Sonia ab?

Noemi Merlant: Das Ganze findet ja allmählich statt. Das Rationelle wird einfach ausgeschaltet. Darin besteht die Ideologie des IS und der Gruppe, der man dann angehört. Die Ängste, die man normalerweise vor dem Tod hat, treten in den Hintergrund, weil man nach und nach in eine andere Richtung gebracht wird. Beim Prozess der Anwerbung und Rekrutierung erhält man viele Antworten. Das sind zwar falsche Antworten, aber diese Antworten geben zunächst Sicherheit. Und wenn man diese Ideologie erst einmal verinnerlicht, werden Kopf und Herz völlig voneinander getrennt: Es geht darum, dass man ins Paradies kommt. Wenn man das will, ist man auch einverstanden, eine Märtyrerin zu werden, um so in die Ewigkeit einzudringen, auch für die Menschen, die man liebt.

Wir erleben in dem Hilfezentrum, wie eine Expertin, Frau Bouzar, betroffenen Eltern den Islam erläutert. Dazu gehören auch die falschen Auslegung der IS-Leute. Das sind Momente, die auf mich fast dokumentarisch wirken. Haben Sie den Eindruck, dass diese Momente den Film entscheidend unterstützen?

Noémi Merlant: Mir persönlich waren diese Szenen sehr wichtig. Gerade wenn man hört, was die Eltern so zu berichten haben, war das für mich eine Erleichterung. Madame Bouzer macht zunächst eine Diagnose, aber dann führen alle gemeinsam die Analyse durch. Das war durchaus hilfreich.

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Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar drehte bereits mit „Die Schüler der Madame Anne“ einen anderen Coming-of-Age Film. Mit „Der Himmel wird warten“ widmet sie sich einem gesellschaftlichen Problem, das nicht unterschätzt werden darf.  Foto: Neue Visionen Filmverleih

Viele denken: „Die Eltern haben Schuld!“

Naomie, was war für Sie die wichtigste Erfahrung im Rahmen dieses Filmprojekts?

Naomi Amarger: Für mich war der markanteste Augenblick nicht während der Dreharbeiten, sondern bei der ersten öffentlichen Aufführung mit den Familien und Mädchen, die das durchgemacht haben. Junge Frauen, die rekrutiert worden waren und sich jetzt im Prozess der gesellschaftlichen Wiedereingliederung befinden. Wir hatten natürlich Angst vor denen, die das durchlebt haben. Die Eltern haben uns dann aber gesagt, dass sie sehr gerührt waren, von dem, was sie da gesehen hatten. In einigen Fällen glaubten sie, praktisch ihrem eigenen Kind dabei zuzusehen, wie es bei ihnen gelaufen war. Die Eltern waren auch zufrieden, weil es für sie wichtig ist, besser in der Öffentlichkeit verstanden zu werden. Viele denken wohl: „Die Eltern haben die Schuld, dass so etwas passiert!“  Und viele der jungen Frauen, sagten, dass sie sich selbst erkannt hätten.

Interview: Berlin, Februar 2017