„Der Ost-Komplex“ startet am 10. November in Berliner Kinos
„Dann haben die doch erreicht, was sie damals wollten!“

In „Der Ost-Komplex“ schildert Mario Röllig seinen Lebensweg: vom unpolitischen Jugendlichen im Ost-Berlin der 80er Jahre, bis hin zum Zeitzeugen und Kämpfer für Demokratiebewusstsein heute. (Foto: Basis-Film Verleih)
Auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung streiten Experten darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Der Dokumentarfilmer Jochen Hick widmet sich dieser Frage in „Der Ost-Komplex“, indem er den Zeitzeugen Mario Röllig porträtiert. Röllig wollte 1987 in den Westen flüchten, wurde jedoch festgenommen und im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert. Dort macht er heute Führungen. Außerdem hält Röllig Vorträge an Schulen und spricht über seine Erfahrungen an US-Universitäten oder vor Mitgliedern der CDU, in der er selbst Mitglied ist. Und immer wieder gerät Röllig mit DDR-Sympathisanten und Anhängern der kommunistischen Gesellschaftsordnung aneinander.

Mario Röllig kurz vor einer Podiumsdiskussion in der Berliner Kulturfabrik im November 2016.
Bernd Sobolla: Mario Röllig, im Film erzählen Sie davon, dass Sie zumindest Ihrer Schwester gegenüber schon sehr früh Ihr Coming out hatten. Da waren Sie etwa 17 Jahre alt. Waren Sie schon immer ein selbstbewusster Typ?
Mario Röllig: Ich war schon selbstbewusst, aber ich war auch total sensibel. Und in der Schule war ich der Frauenheld. Während andere mit Mädels auf der Toilette erwischt wurden beim Rauchen, wurde ich mit Mädels beim Knutschen erwischt. Aber etwa in der 10. Klasse merkte ich, dass ich mich nicht mehr nach Mädchen umdrehte, sondern nach Jungs. Und ich dachte, ich sei krank. Es gab ja in der DDR keine Aufklärungsliteratur. Dann hatte ich ein Gespräch mit meinem Hausarzt. Der war zufällig selber schwul und sagte: „Du bist nicht krank, du bist schwul. Lebe es aus, aber überlege dir genau, wem du es sagst!“ Damals gab es für mich Musikidole wie Boy George und Falco und ich sah äußerlich zum Teil auch aus wie sie. Ich saß stundenlang vor dem Spiegel und schminkte mich. Eigentlich hätten meine Eltern schon früh merken müssen, dass ich schwul bin. Aber sie wollten es vielleicht auch nicht sehen. Meine Schwester hat mir „Asyl“ gegeben, nachdem ich sie damit konfrontierte, dass ich schwul bin. Dafür war ich ihr immer dankbar. Und nach meiner Verhaftung, kurz bevor meine Eltern zur Vernehmung von der Stasi abgeholt wurden, sagte sie zu ihnen: „Bevor ihr es von denen erfahrt: Mario ist schwul!“ Das war für meinen Vater fürs Verhör sehr wichtig, weil die Stasi damit unsere Familie zerstören wollte.
Jochen Hick, das ist bereits Ihr dritter Film, der sich mit dem schwulen Leben in der DDR befasst. Was fasziniert sie daran?
Jochen Hick: Wenn man einen Film über schwule Themen macht, dann merkt man, über wie viele Dinge eigentlich noch gar nichts gemacht wurde. Man kommt dann während des Drehens auf so viele Sachen, die ins aktuelle Filmprojekt entweder nicht passen oder thematisch zu weit über die eigentliche Geschichte hinaus gehen würde. Dennoch bleibt bei mir dann hängen, dass ich die Geschichten machen will. Bei „Out in Ost-Berlin“ (2013) war es so, dass die Leute, um die es da geht, ja auch schon alt sind.

Der 56-jährige Regisseur drehte bereits Filme wie „East/West – Sex & Politics“ (2008), „DDR unterm Regenbogen“ (2011) oder „Out in Ost-Berlin“ (2013).
Wie sind Sie auf Mario Röllig und seine Geschichte aufmerksam geworden?
Jochen Hick: Bei „Out in Ost-Berlin“ haben wir Lesben und Schwule dokumentiert, die zumindest 20 Jahre alt waren, als die DDR zu Ende ging. Und Mario Röllig hätte einer davon sein können. Aber wir haben von Anfang an gemerkt, dass seine Geschichte noch umfangreicher war und ein wesentlicher Teil davon nach 1989 stattfand. Sehr wichtige Jahre, die zudem eine große Dramatik in sich tragen. Das alles hätte die Geschichten in „Out in Ost-Berlin“ ein bisschen erdrückt. Also habe ich zu Mario gesagt: „Ich würde gerne mit Dir einen anderen Film machen. Es wird vielleicht nicht ein Biopic werden, aber etwas Ähnliches. Dann hat es eine Weile gedauert, bis wir den Film finanzieren konnten. Aber jetzt ist er fertig.
Mario Röllig, Sie sprechen von Ihrer ersten großen Liebe mit 17 Jahren, als Sie sich in einen Westler verliebten. Der aber war schon etwa 40. War das Ihre Naivität, Unerfahrenheit oder einfach die Faszination für den Westen?
Mario Röllig: Wir lernten uns um Thermalbad in Budapest kennen. Budapest war sowieso offener als Ost-Berlin und die Discos waren cooler. Es war dort einfach eine tolle Atmosphäre. Der lud mich sofort ein: „Hast Du nicht Lust vom Campingplatz zu mir ins Hylton Hotel zu ziehen?“ Das war für mich wie Denver Clan. Hat mich als 17-jähriger wahnsinnig beeindruckt. Es war aber auch so, dass ich mich wirklich verliebte. Ich fand ihn als Typen richtig cool. Er war kein Duckmäuser, sondern selbstbewusst. Es war zudem eine Zeit für mich, die mit vielen Lebenserfahrungen durch ihn verbunden waren, wo ich mich an ihm auch anlehnen konnte, vielleicht als Vater und Freund in einem.
Sie haben ursprünglich als Kellner gearbeitet. Wie sind Sie zum Zeitzeugen und Gedenkstättenführer geworden?

Plakat: Basis-Film Verleih
Mario Röllig: Der erste Auslöser war der Mauerfall. Wie viele Tausende ehemalige Verfolgte, die im Westen lebten, habe ich mich im ersten Moment am 9. November gar nicht gefreut. Denn die Mauer hat mich ja nicht nur getrennt, sondern auch geschützt. Nämlich vor den Leuten, die mir das Leben so schwer gemacht hatten. Und auf einmal fiel die Mauer, und die waren alle wieder da. Dann habe ich jahrelang versucht zu verdrängen, war völlig unpolitisch. Die Vergangenheit holte mich im Januar 1999 ein, als ich meinen ehemaligen Stasi-Offizier wieder traf. Ich erwartete eine Entschuldigung von ihm und der sagte nur: „Wofür?“ Plötzlich kam das ganze Trauma der Verfolgung wieder hoch, und meine Leben war ein zweites Mal zu Ende, mein unbeschwertes Leben. Und es wurde auch nie wieder so, wie es mal war. Das führte dann bis zu einem Selbstmordversuch mit einer Überdosis Schlaftabletten. Im Krankenhaus sagte dann der Chefarzt zu mir: „Wenn Du jetzt nicht mehr leben willst, dann haben die doch erreicht, was sie damals wollten. Du musst in die Gedenkstätte nach Hohenschönhausen, das Gefängnis, wo du mal inhaftiert warst. Das ist nicht für jeden der gute Weg, aber für dich die aktive Auseinandersetzung. Dann wird es dir besser gehen. Und reden befreit!“
Jochen Hick, in „Der Ost-Komplex“ verzichten Sie bewusst darauf, die schwule Szene in Ost-Berlin zu zeigen. Warum?
Jochen Hick: Das habe ich einfach vorausgesetzt. Außerdem war die Tatsache, dass Mario schwul ist, nicht das größte Problem in seinem Leben. Schwul sein in der DDR war sicher nicht einfach, aber auch kein richtig großes Drama. Das zeigen wir auch in „Out in Ost-Berlin“. Ich fand Marios Geschichte so interessant, weil er als Schwuler im Rampenlicht steht, über politische Dinge redet. Da zucken einige schon ein bisschen zusammen. Der dann auch noch sagt: „Ich bin HIV positiv. Ich bin auch eitel. Ich bin dieses und jenes!“ Mich hat interessiert, wie die Leute auf seine Geschichte reagieren? Wie wird über dieses Geschichtserbe der DDR gesprochen? Gibt es da Tabus? Was für Absurditäten passieren da zum Teil? Knien die Menschen teilweise vor ihm nieder? Weil sie sagen: „Okay, ich darf ihn nicht angreifen, obwohl er – weil er ein bisschen konservativer denkt als ich – eigentlich jemand wäre, den ich gerne angreifen würde. Aber er ist ein Opfer. Deswegen darf ich es nicht tun.“ Diese Aspekte habe ich versucht, im Film unterzubringen. Denn ich finde, man muss viel mehr beobachten wie gesprochen wird und nicht immer nur, was es für Fakten gibt.
In wieweit war Mario Rölligs konservative Wendung für Sie auch eine Inspiration?
Jochen Hick: Für mich war nicht wichtig, dass er in die CDU eingetreten ist. Aber ich fand es interessant. Denn es gehört ein bisschen zur Szene der Zeitzeugen der DDR oder der, die sich als Opfer der DDR sehen, dass sie alle eher in eine konservative Richtung gegangen sind. Viele davon haben ja durchaus einmal selber sozialistisch gedacht. Und das schaue ich mir mit einer gewissen Ambivalenz an.

Kämpft gegen die Vergangenheitsverdrängung alter DDR-Funktionsträger und die Gegenwartsverdrängung heutiger konservativer Kräfte, Mario Röllig.
Mario Röllig, bei Ihrem USA-Trip stoßen sie verbal mit dem ehemaligen Sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf zusammen. Biedenkopf wirft Ihnen vor, zu negativ über Deutschland zu sprechen. Eigentlich gäbe es hierzulande nämlich kein Problem mit Rechtsradikalismus. Haben Sie ihn später noch einmal getroffen?
Mario Röllig: Nein, das war nicht möglich. Zu solchen Politikern gehören ja auch Ehefrauen, und die sind oft schlimmer als die Männer. Sie hat dafür gesorgt, dass wir nicht mehr die Möglichkeit hatten, noch einmal ins Gespräch zu kommen. Und er fühlte sich natürlich angegriffen. Er wollte Deutschland so positiv darstellen. Nach dem Motto: „Wir haben alles richtig gemacht!“ Er war gar nicht in der Lage, souverän auf meine Kritik zu reagieren. Ich bin jetzt gerade mit einem Demokratieprojekt in Sachsen für Flüchtlinge unterwegs. Und so ähnlich erlebe ich das jetzt dabei auch. Sächsische Landespolitiker setzen sich nicht in Schulen, um mit Schülern zu diskutieren, die eher in der Neonazi-Ecke stehen. Ich bin der Meinung, dass mehr Demokratieprojekte gefördert werden müssten, damit man von diesem braunen Sumpf wegkommt. Bei Biedenkopf fand ich es schon unverschämt, dass er als sächsischer Ministerpräsident a.D. davon spricht, dass wir kein Neonazi-Problem hätten, dass solche Leute zwar im öffentlichen Raum wären, aber politisch nicht relevant seien. Zu seiner Zeit ist die NPD in den Sächsischen Landtag eingezogen. Als wir in den USA (zu kurz) miteinander sprachen, war die NSU schon aufgeflogen und Pegida marschierte bereits seit Wochen. Da musste ich mich einmischen. Dazu bin ich dann doch zu sehr Demokrat.
Fühlen Sie sich in der CDU Zuhause?
Mario Röllig: Ich habe mir eine ganze Weile Gedanken gemacht, mich politisch zu engagieren. Und für mich war 2004, als ich in die CDU eintrat, die CDU die Partei, die sich mit der Förderung von Zeitzeugenprojekten und Gedenkstätten viel mehr engagierte als andere Parteien. Da war für mich klar: Okay, als schwuler, kritischer Mann wird es für mich nicht ganz einfach. Aber ich trat in die Partei ein mit dem Gedanken, dass ich dort mit meiner Kritik etwas verändern will. Damit können die auch durchaus umgehen. Durch diese Kontakte habe ich auch gemerkt, dass ich mich auf jeden Fall, was Geschichtspolitik betrifft, Zuhause fühle.
Jochen Hick, was war Ihre interessanteste Erfahrung im Rahmen der Filmarbeiten?
Jochen Hick: Zum einen fand ich seine Biografie natürlich spannend. Es ist ja auch ein gewisser sozialer Sprung, den Mario gemacht hat. Er war Kellner am Flughafen in Schönefeld. Das war sicher kein schlechter Job. Aber jetzt diskutiert er mit Leuten wie Kurt Biedenkopf und spricht auf Reisen in den USA über seine Erfahrungen. Es ist toll zu sehen, wie sich seine Geschichte entwickelt hat. Ich fand es auch sehr interessant, die Reaktionen der Leute zu beobachten oder zu erleben, warum Gespräche nicht stattfinden. Man sieht, dass es zwei Lager gibt (Opfer und Täter in der DDR), die einfach nicht miteinander reden können.
Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
Mario Röllig: Ich will weg von meiner persönlichen Geschichte und etwas mehr zu aktuellen Themen machen, wie „Demokratie auf dem Prüfstand“. Wie gehen wir heute mit Flüchtlingen um? Wie können wir diese Herausforderung meistern? Und ich glaube, ich bin da auf einem ganz guten Weg.

Klaus Lederer (Landesvorsitzender Berlin, Die Linke) ist einer der weniger seiner Partei, der es schafft, auf Mario Röllig zuzugehen. (Foto: Basis-Film Verleih)
Interview: Berlin, November 2016