Auf den Spuren eines ungewöhnlichen Rabbiner-Lebens
2011 feierte die Filmemacherin Britta Wauer Premiere ihres später preisgekrönten Dokumentarfilms „Im Himmel, unter der Erde“, ein Portrait des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. In dem Werk taucht u.a. der Rabbiner William Wolff auf, der mit seinen heiteren Anmerkungen zum Tode viele Zuschauer in seinen Bann zog. So sehr, dass es immer wieder Anfragen gab, ob man nicht mehr über den Geistlichen erfahren könne. Diesen Bitten ist Britta Wauer nachgekommen. Am 14. April startet der Film, der den schlichten Titel „Rabbi Wolff“ trägt. Dazu hat die Filmemacherin den heute 90-jährigen deutsch-englischen Rabbiner 2014 bei seinen Reisen durch drei Länder begleitet.

Die Filmemacherin Britta Wauer freut sich auf den Kinostart ihres neuen Films.
Bernd Sobolla: Frau Wauer, Rabbi Wolff tauchte bereits in Ihrem Film „Im Himmel unter der Erde“ auf, wo er auf recht amüsante Weise über den Tod sprach. War dieses erste Zusammentreffen mit William Wolff damals ein Zufall?
Britta Wauer: Nein, überhaupt nicht. Ich habe damals für den Friedhofsfilm „Im Himmel unter der Erde“ einen Rabbiner gesucht, der etwas erzählt über die Vorstellung vom Jenseits im Judentum und den Unterschied zwischen Judentum und Christentum in der Trauerarbeit. Dazu hatte ich bei der Jüdischen Gemeinde in Berlin gefragt, ob sie mir einen Rabbiner empfehlen könnten. Ich bekam aber keine Antwort, weil das die falsche Frage war. Man kann in einer Einheitsgemeinde nicht nach einem Rabbiner fragen. Denn innerhalb dieser Einheitsgemeinde gibt es verschiedene Strömungen. Und wenn man einen Rabbiner empfiehlt, dann würde man mit ihm auch eine bestimmte Strömung bevorzugen. Ich erhielt also keine Antwort. Eine Freundin kam dann auf die Idee, William Wolff zu fragen. Der ist zum einen gebürtiger Berliner und kennt sich auch auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee aus. Er war damals Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern und als solcher weit genug entfernt von Berlin, um niemandem auf die Füße zu treten. Er war auch sofort bereit mitzumachen. Ich hatte aber keine Ahnung, dass er neben seinem rabbinischen Wissen auch sehr viel Humor, Witz, Charme und sein ganzes schauspielerisches Talent mitbringen würde. Also ich war schon beim Interview begeistert von ihm. Und das hat sich dann fortgesetzt.
Kann man Rabbiner Wolff als eine Art „bunter Hund“ in der jüdischen Community bezeichnen?
Ich glaube, er hängt das gar nicht so an die große Glocke, wie besonders er eigentlich ist. Er selber empfindet sich auch gar nicht als besonders. Er hält sich für einen ganz normalen Gemeinderabbiner. Und wenn man ihm sagt, dass er doch ziemlich ungewöhnlich ist, dann denkt er immer: „Ja, gut, nicht jeder hat vorher als Journalist gearbeitet…“ Aber mehr fällt ihm zu diesem Thema nicht ein. Und dass er doch sehr agil ist und es wenig Menschen gibt, die in zwei verschiedenen Ländern arbeiten und Yoga machen, beim Pferderennen wetten, in die Kirche gehen und Weihnachtslieder singen, das scheint ihm alles nicht ungewöhnlich zu sein.
Was hat letztlich dazu geführt, dass Sie ihm einen Film widmen? Nicht jeder ungewöhnliche Mensch bzw. Rabbiner wird so geehrt?
Es ist wirklich so, dass ich gar nicht vorhatte, einen Film über ihn zu machen. Sondern dass ich dazu gedrängt worden bin. Das liegt auch an dem bereits genannten Vorgängerfilm über den Jüdischen Friedhof in Weißensee. Denn der war ein großer Erfolg, u.a. weil Rabbi Wolff darin die Menschen in seinen Bann zieht und so leicht und locker über den Tod spricht. Viele Leute fragten: „Wer ist dieser Mann?“ Der Film lief überall. Wir haben ihn damals auf Festivals in den USA, in China und in Südafrika gezeigt und Preise gewonnen. Und überall war das Publikum von diesem kleinen Mann begeistert. Also ich bin regelrecht dazu aufgefordert worden, jetzt einen Film über ihn zu machen. Ich habe mich am Anfang ein bisschen gewehrt, weil ich dachte, dass das andere machen sollten. Aber ich hatte keine Chance. Und Rabbi Wolff war sofort von der Idee angetan, dass wir ihn begleiten.
Sie sind keine Jüdin?
Nein. Ich weiß auch nicht, wie ich zu diesen jüdischen Themen gekommen bin, bzw. ich weiß es vielleicht doch: Ich habe mich immer für Geschichte interessiert, vor allem für Deutsche Geschichte. Und die Deutsche Geschichte besteht nun mal auch aus Jüdischer Geschichte. Sie ist ein Teil davon. Und irgendwie sind diese Themen immer wieder zu mir gekommen oder ich fand sie faszinierend. Ich mache Filme über Menschen, und das sind auch mal Juden.
Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen: Mich hat der Film von der Stimmung anfangs ein wenig an Miss Marple erinnert: England, eine alte Frau, interessant, neugierig, aufgeweckt – mit einigen Marotten… Dann nach einer Weile, wenn der Film in die Vergangenheit von Rabbi Wolff eintaucht, gewinnt er immer mehr an Tiefe. Entspricht der Aufbau des Films Ihren Erfahrungen oder sind Sie einer Stimmung nachgegangen, die sich um Rabbi Wolff herum verbreitet?
Es ist natürlich schwierig über einen Menschen, der Ende 80 ist, einen 90-minütigen Film zu machen. Und ich hatte mich von vornherein entschieden, keinen Film zu machen, der in der Vergangenheit spielt. Nicht sein gelebtes Leben sollte im Vordergrund stehen, sondern was ihn heute ausmacht und wie vielfältig er ist. Dann zieht man los, beobachtet ihn und sagt: „Oh, hoppla! Wie, das macht er jetzt auch noch? Und wo ist er jetzt schon wieder?“ Das ist schon sehr ungewöhnlich. Und mir war klar, dass ich das für den Anfang brauche, um die Zuschauer erst einmal für ihn zu interessieren. Aber ich wollte noch mehr von ihm zeigen. Zum Beispiel dass er nach außen hin ein wahnsinnig fröhlicher und auch höflicher Mensch ist. Aber jemand, der eine wahnsinnige Tragik im Leben erlebt und viele Schicksalsschläge hinter sich hat.
Gab es Dinge, die Sie nicht filmen sollten oder gar durften?
Von ihm aus nicht. Aber wir konnten z.B. nicht mit nach Windsor in die Schlosskirche, um den Weihnachtsgesang zu filmen. Dort darf nämlich nicht gefilmt werden. Und schon gar nicht durften wir die Musik aufnehmen. Sehr bedauerlich. Denn das wäre sehr schön gewesen. Also wir saßen mit ihm, aber ohne Kamera, in der Kirche, und er hat wirklich am lautesten von allen gesungen. Das ist eine Szene, die dem Film fehlt.
Wir erleben im Film, wie Rabbi Wolff zufällig ein Schreiben in die Hand bekommt, in dem über sein Ausstieg aus der Gemeinde in Schwerin spekuliert wird: Wir erfahren nicht viel darüber. Aber er ist ziemlich betroffen, und ich hatte den Eindruck, dass es innerhalb der Gemeinde vielleicht einfach um das Bedürfnis nach einem Generationswechsel geht. Wie sehen Sie das?
Ja, er sagt nur: „Die wollten wahrscheinlich mal einen Russen haben.“ (Anmerkung: Fast die gesamte Gemeinde in Schwerin besteht aus russisch-stämmigen Juden.) Aber man muss der Tatsache auch ins Auge schauen, dass er inzwischen 89 Jahre alt war und das Pensum, was er dort hatte, war einfach enorm. Es würde jeden von uns sehr fordern, wenn nicht überfordern. Sie wollten ihn bestimmt nicht loswerden, sondern versuchten, eine Lösung zu finden, um ihm Arbeit abzunehmen und Unterstützung durch einen jüngeren Rabbiner zu geben. Deswegen ist er ja auch weiterhin Landesrabbiner; und er nimmt auch immer noch repräsentative Aufgaben wahr. Er hat gerade neulich wieder einen Gottesdienst geleitet. Also das macht er ab und zu weiter. Aber da haben Sie recht: Es war nicht so, dass sie ihn loswerden wollten.
Erstaunlich empfand ich die Wandlung vom Journalisten zum Rabbiner: Er wacht eines Morgens auf und will Rabbiner werden. Das klingt irgendwie merkwürdig.
Das war etwas anders. Dieses Ereignis erzählt er in einer Szene in Haifa einer jungen Frau vom Leo-Baeck-Institut: Als er als Kind in der Schule gefragt wurde, was er mal werden möchte, sagte er bereits: Rabbiner oder Journalist! Es ist dann aber nicht dazu gekommen. Man darf nicht vergessen: Er schloss 1943 die Schule ab, also noch mitten im Krieg. Die Ehe der Eltern ging zu dieser Zeit auseinander. Er hatte kein Geld, und auch die Umstände sprachen nicht dafür, so etwas Exotisches wie ein Rabbiner-Studium anzufangen. Aber irgendwie muss es immer in ihm geschlummert haben. Aber genau wie Sie finde auch ich den Schritt, mit 50 Jahren plötzlich Rabbiner zu werden, schwer nachzuvollziehen. Denn er war sehr erfolgreich als Journalist und ist auch immer wieder mit wichtigen Menschen zusammengekommen. War auf Du und Du mit englischen Politikern und reiste mit dem Außenminister in der halben Welt umher. Das war ein spannender Job. Und das einfach hinzuwerfen, kann man wahrscheinlich nur verstehen, wenn man sich bewusst macht, dass er scheinbar doch ein sehr gläubiger Mensch ist, und es ihm wichtig war, auch diesen Aspekt zu leben.

Britta Wauer in ihrem Produktionsbüro am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte.
Was war für Sie die größte Überraschung im Rahmen der Filmproduktion?
Ich habe wahnsinnig viele Welten kennengelernt, die mir vorher völlig unbekannt waren, habe viel über die englische Gesellschaft erfahren, über das Adelssystem, das britische Parlament, die Lords, mit denen wir auch im Rahmen der Dreharbeiten zu tun hatten. Rabbi Wolff hat überall auf der Welt einen großen Freundeskreis. Aber diese Freunde kennen immer nur einen Teil von ihm und seinem Leben. Und wir haben immer neue Facetten von ihm kennengelernt. Wir waren mit ihm in der Fastenklinik oder am Toten Meer, im britischen Parlament und in Gottesdiensten. Es war für mich etwas ganz Besonderes, ihn immer wieder in einer neuen Rolle zu erleben und zu sehen, wo er überall hingehört.
Hat sich Ihr Bewusstsein vom Judentum mit diesem Mann verändert?
Durchaus. Es ist mir noch klarer geworden, wie vielfältig das Judentum eigentlich ist. Und dass es gar nicht das Judentum gibt, sondern ganz verschiedene Auslegungen und Strömungen und Besonderheiten. Und das hat mir wiederum gezeigt, wie man mit sehr orthodoxen Auffassungen konfrontiert werden kann. Rabbi Wolff kommt ja aus einer sehr orthodoxen Familie, hatte eine Schwester, die inzwischen nicht mehr lebt, die aber ultra-orthodox wurde und deren Kindern ebenfalls ultra-orthodox sind. Er selbst versucht zwar, sich an die Gebote zu halten, kann sie aber rein praktisch gar nicht einhalten, weil er zum Beispiel regelmäßig am Sonnabend reisen muss. Das ist natürlich nach dem Jüdischen Gesetz verboten. Daran hält er sich eben nicht. Und trotzdem schätzen ihn die Leute, werten ihn und seine Arbeit als etwas Besonderes, können damit umgehen. Und er schafft es, diese Welten miteinander zu verbinden. Das hat mich sehr beeindruckt.