Ulrich Gregor – Der Mann des unabhängigen Kinos

 

Das Subversive und der Humor

Nach 30 Jahren tritt Ulrich Gregor zum letzten Mal als Leiter des Forums aufs Berlinale-Podium

Ein Gespräch über die Liebe zum Film und die Realität auf der Leinwand

Mit der Berlinale 2001 trat Ulrich Gregor, der Leiter des „Internationalen Forums des Jungen Films“ zum letzten Mal ins Scheinwerferlicht des Festivals. Seit seiner Gründung 1971 präsentierte er gemeinsam mit seiner Frau Erika und den Mitarbeitern des Forums die Werke junger, ambitionierter Filmemacher und zeigte, wie groß das Spektrum der Filmkunst sein kann. Und es gibt wohl bis heute keine zweite Persönlichkeit in der deutschen Filmbranche, die so unumstritten war wie Gregor. Seine Kompetenz deutete er bereits in den 50er Jahren als Kritiker der legendären Zeitschrift „Filmkritik“ an, 1963 gründete er ebenfalls mit seiner Frau und anderen den Verein „Freunde der deutschen Kinemathek“, aus dessen Filmvorführungen das Berliner Arsenal-Kino hervorging.

Bernd Sobolla: Herr Gregor, das „Internationale Forum des Jungen Films“ widmet sich, so heißt es, vor allem dem „Unabhängigen Kino“. Was ist ein unabhängiger Film?
Ulrich Gregor: Viele dieser Begriffe sind bei näherem Hinsehen eigentlich untaug-lich, sie sind missverständlich oder undeutlich, aber es gibt keinen besseren Begriff. Nehmen wir mal bestimmte Kategorien in der Ästhetik: Was ist Realismus? Das kann man nicht definieren. Oder was ist ein Dokumentarfilm? Wenn man sich mit Dokumentarfilmen beschäftigt, kommt man zu der Erkenntnis, dass es ihn gar nicht gibt, und dass es unmöglich ist, ihn zu definieren. Aber gleichwohl verwendet man diesen Begriff. Das „Unabhängige Kino“ ist ein schillernder, vielseitiger Ausdruck, der in den verschiedenen Teilen der Welt auch ganz unterschiedlich gedeutet wird. Wir beschäftigen uns mit dem Kino als einem lebendigen Medium, als einem Aus-drucksmittel und nicht so sehr dem industriellen Kino, das aus ganz anderen Erwä-gungen heraus gemacht wird. Trotzdem können die Filme, die wir lieben, natürlich auch unterhaltend sein. Aber im Großen und Ganzen suchen wir eine andere Linie. Wir suchen Filme, die sich unter Umständen dem industriellen System entgegenstellen. Die sind von dem industriellen System dann unabhängig. Insofern ist der Begriff zwar vage, aber er gibt eine ungefähre Richtung an.

„Die Woche der Kritik“ als Gegenprogramm

Ende der 60er Jahre forderten Studenten eine Reform der Filmfestspiele, Filmemacher wie Alexander Kluge und Edgar Reitz wurden als „reaktionär“ beschimpft und mit Eiern beworfen, und 1970 eskalierte schließlich die Situation: Nachdem Michael Verhoevens Anti-Vietnam-Kriegsfilm „O.K.“ aus dem Wettbewerb verbannt werden sollte, musste die Berlinale abgebrochen wurde. Haben Sie damals damit gerechnet, verantwortlich für eine neue Sektion zu werden?
Es gab damals sehr viele Debatten, wie man die Berliner Filmfestspiele reformieren könnte. Und es gab zwei Modelle: Das eine war ein komplett überarbeitetes Festival. Das andere war die Fortführung des bisherigen Festivals, ergänzt um eine neue Sektion. Letzteres hat sich dann durchgesetzt. Und als das Angebot kam, waren wir etwas überrascht, aber auch erfreut. Denn wir waren zwar an der ganzen Debatte beteiligt, hatten die „Woche der Kritik“ als Gegenprogramm zur Berlinale veranstaltet, aber ein richtiges Konzept hatten wir auch noch nicht. Zudem gab es das Problem, dass die Lösung, die man uns vorschlug, auch eine gewisse „Alibi-Lösung“ war.

„Alibi-Lösung“, denn Sie waren für den frischen Wind zuständig, damit alles andere weiterlaufen konnte wie bisher?
Am Anfang wusste kein Mensch, ob das Forum eine große Zukunft haben würde. Gleichwohl war es ein faszinierendes Experiment, eine Sektion unter völlig autono-mer Auswahl auf die Beine stellen zu können. Und wir dachten auch nicht, dass es lange gut gehen würde. In den ersten Jahren wurden unsere Verträge nur jeweils für ein Jahr verlängert. Und wir waren uns sicher, dass das, was wir zeigten, vielen Leuten auch missfallen würde. Zudem gab es einen ständigen Kleinkrieg mit dem übrigen Festival. Aber darüber haben wir uns keine Gedanken gemacht. Wir hatten ein eigenes Budget und Ansprechpartner innerhalb der Festspiel GmbH. Und mit denen sind wir immer gut ausgekommen.

„Also gut, dann zeigen wir Schmalfilm!“

Ihr Verhältnis zu Alfred Bauer, dem damaligen Festival-Leiter, war aber schwierig?
Natürlich stand das alte Festival und Alfred Bauer für eine Art von Kino, mit der wir nicht so sehr viel anfangen konnten. Wenn ich jetzt so lese, was wir damals über die Filmfestspiele geschrieben haben, war das so vernichtend, dass das vielleicht auch etwas ungerecht war. Denn selbst in den Zeiten vor 1971 liefen auch viele beachtliche Filme, neben natürlich viel Entbehrlichem und Überflüssigem. In den ersten Jahren der Doppelexistenz Filmfestspiele und Forum gab es eine technische Zusammenarbeit. Und wir konnten dann auch profitieren von Einrichtungen der Filmfestspiele wie dem Vorführraum und dem Filmlager. Damals gab es ja noch keine Videokassetten, die Filme wurden angeliefert in 16 oder 35 mm. Wir konnten dann sogar den Vorführraum benutzen. Dort gab es einen sehr liebenswürdigen Vorführer, der sich große Mühe gab und den 16mm-Film immer als ‘Schmalfilm’ bezeichnete, was uns sehr erheiterte. Er sagte immer: „Na, haben Sie wieder Schmalfilm? Also gut, dann zeigen wir Schmalfilm.“

Im ersten Jahr zeigte das Forum fast ausnahmslos politische Filme aus dem linken Spektrum: über die Black Panther Bewegung in den USA, über die Lebensbedingung algerischer Arbeiter in Frankreich oder Rosa von Praunheims „Nicht der Schwule ist pervers…“ Dennoch titelte z.B. die „Welt“ (7. Juli 1971): „Die Berlinale fand auf dem Forum statt“. Haben Sie mit einer solch positiven Resonanz gerechnet?
Diese Frage haben wir uns vorher gar nicht gestellt. Wir sind einfach nur mit Begeisterung und Leidenschaft an die Sache heran gegangen. Und besonders der Anfang stand unter guten Vorzeichen. Zu vielen Filmemachern standen wir bereits in Kontakt durch unsere Arbeit bei den „Freunden der Deutschen Kinemathek“. Und auf den Filmfestspielen strömten die Zuschauermassen zu uns. Das Forum stellte irgendwie den Zeitgeist dar.

„Was ist das neue Kino?“

Was waren für Sie die cineastischen Höhepunkte der 70er Jahre?
Es gab einmal ein gewisses Zusammengehen von Filmen, die eine politische Ziel-setzung hatten und die gleichwohl auch im Formalen, im Ästhetischen experimentierten. Das war eine besonders fruchtbare Zeit, wo auch in der Filmkritik und der Filmtheorie sehr nachgedacht wurde, über Erneuerungen und die Frage: „Was ist das neue Kino?“ Godard hat z.B. eine zeitlang die Herstellung von Spielfilmen aufgegeben und hat sich mit Filmen ganz anderer Natur beschäftigt, die dokumentarisch, essayistisch waren. Auch im deutschen Film fanden ja viele solcher Erneuerungen statt. Es gab Kluge, der uns ganz besonders nahe stand, und es gab Filmemacher wie Wenders, Herzog und auch Fassbinder. Wir standen all diesen Regisseuren nahe, waren ihren gegenüber aber auch kritisch, vielleicht sogar manchmal zu kritisch. Es herrschte jedenfalls ein ungeheurer Enthusiasmus. Zudem lagen die inhaltlichen Neuerungen, die politischen Zielsetzungen und das Formale, das Ästhetische noch nahe beieinander.

Es war vor allem eine sehr politische Zeit. 1974 z. B. lief „The Reversal“, ein Film, der in Griechenland spielt. Griechenland war damals noch ein diktatorisches...
… es war ein faschistisches Land. Es war das Land der Obristen. Viele Leute fragten uns: „Wie könnt ihr es wagen, aus einem solchen Land einen Film zu zeigen.“ Ne-benbei gesagt war es eine amerikanische Produktion und im Exil entstanden. Wir haben aber in den frühen 70er Jahren bereits Filme von Theo Angelopolos gezeigt. Das waren subversive Filme, da konnte man zwischen den Zeilen allerhand heraus lesen über die wirklichen Zustände in Griechenland. Dasselbe traf auch auf den Iran zu; das war noch die Zeit des Schahs. Damals gab es ein sehr interessantes oppositionelles Kino im Iran, und wir haben verschiedene dieser Filme gezeigt, und auch da mussten wir immer wieder erklären. „Es ist ein Kurzschluss anzunehmen, dass in einem Land, in dem es einen Schah gibt oder das unter einem Obristen-Regime steht, die ganze Kultur diesen Stempel trägt. Da gibt es viele verschiedene Strömungen und Widerstand. Und diesen Widerstand wollen wir zeigen.“

„Irgendwann hat die Sowjetunion einen Beobachter geschickt“

Probleme gab es auch oft mit den DDR-Behörden, wenn Sie Filme von der DEFA zeigen wollten.
In den 70er Jahren war die Berlinale ein „Schaufenster der freien Welt“, da nahmen keine osteuropäischen oder sozialistischen Länder teil. Man kam recht bald zu der Erkenntnis, dass dies ein Defizit darstellt und wollte, dass die sozialistischen Länder doch auch teilnehmen sollten. Es wurden nun ständig Einladungen ausgeschickt. Aber die Sowjetunion, die ja federführend in diesen Dingen war, stellte sich erst mal taub. Das Hauptproblem bestand darin, dass die Berlinale in West-Berlin stattfand und eine Veranstaltung ist, an der die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist. Nach der damaligen Theorie galt ja, dass West-Berlin nicht zur Bundesrepublik gehören durfte, sondern eine eigene, unabhängige politische Einheit darstellte. Wenn hier aber eine Veranstaltung stattfand, deren Mitträger die Bundesrepublik ist, dann war das in den Augen des Ostblocks nicht legitim. Es gab ein jahrelanges Tauziehen, und irgendwann hat die Sowjetunion einen Beobachter geschickt, und ein Jahr später, 1975, nahm die Sowjetunion dann teil. Nun konnten auch die der anderen sozialistischen Länder teilnehmen, inklusive der DDR. Aber bis zur Wende war es ein leidvolles Terrain, geprägt von mehr oder weniger großen Spannungen und Auseinandersetzungen. Denn diese Länder wollten zwar teilnehmen, aber sie wollten sich mit den ihnen genehmen Filmen darstellen. Und wir wollten die künstlerisch guten bzw. die Dissidentenfilme haben. Die wollte man uns aber nicht geben. So folgte ein endloses Gerangel, z.B. mit der Sowjetunion und Tarkowski, der um gar keinen Preis herauskommen sollte. Genau so mit der DDR. So viele tolle Filme hat die DDR vielleicht auch nicht gemacht; und uns interessierten vor allem die Dokumentarfilme. Und das Gerangel ging dann immer darum, wen man einladen darf und wen nicht.

‚Es war sicher ein Fehler, dass wir so überkritisch waren“

Fassbinder war regelmäßig auf der Berlinale, jedoch nur einmal im Forum. Wollte er, der typische Autorenfilmer, nicht ins Forum oder wollte das Forum ihn nicht?
Seine frühen Filme entstanden vor Beginn des Forums. Wir haben ihm aber schon 1970 im Arsenal-Kino eine Retrospektive gewidmet und waren damit die ersten, die eine Fassbinder-Retrospektive gezeigt haben. Fassbinder hat dann viele Filme gedreht, um die sich dann die Festivalwettbewerbe rissen. Und ein Wettbewerb hat dann meistens das Prä. In Cannes sowieso, und in Berlin war es dann auch so. Es war nicht so, dass bei uns jedes Jahr ein Fassbinder-Film zur Diskussion gestanden hätte, sondern die waren aus verschiedenen Gründen nicht erreichbar. Ich glaube, dass wir einmal einen Fassbinder-Film nicht genommen haben. Es war sicher ein Fehler, dass wir so überkritisch waren. Und wir waren damals als Forum auch etwas puristisch eingestellt. Wir suchten Filme, die sich nach wie vor abseits der herkömmlichen Bahnen bewegen, und die vielleicht auch nicht unbedingt das kohärente Erzählen betreiben – in Form von Fiktion. Und Fassbinder suchte doch auch den Kontakt zum Zuschauer, und er schätzte das Genre des Melodrams sehr. Von Melodram hielten wir nicht so viel, denn Melodram war irgendwie Teil des US-Kommerzkinos. Aber dass wir den Film „In einem Jahr mit 13 Monden“ genommen haben, das war ein absoluter Treffer. Denn auch Fassbinder hat immer gesagt, dass das ein besonderer Film sei.

„Die Frage des Alters ist sekundär“

Der Portugiese Manoel de Oliveira war 71 Jahre alt, als er im Internationalen Forum des Jungen Films sein Debüt hatte?
Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir den Begriff des „Jungen Films“ nicht altersmäßig verstehen, sondern damit ein Kino der Innovation, des Wagemuts und des Experiments meinen. Natürlich haben wir eine Dominanz von jungen Regisseuren. Ein Widerspruch ist wiederum, dass wir sehr hohe ästhetische Ansprüche an die Filme stellen, und nur wenige junge Regisseure sie erfüllen können. Wir möchten zwar gerne diese neuen und ganz jungen Filme zeigen, aber sie sind oft mit gewissen Mängel. Und dann nehmen wir sie auch nicht. Und wir waren eigentlich immer sehr froh, wenn es uns gelang, jemanden zu finden wie Manoel de Oliveira, der in einem schon vorgerückten Alter sehr formal progressive und avantgardistische Filme macht und unter Beweis stellt, dass eben diese Frage des Alters sekundär ist.

Ein Filmfestival zeigt nicht nur Filme, es zeigt manchmal auch Filme nicht. „Night Crossing“(1982, Flucht aus der DDR in einem Ballon) z. B. wurde nicht gezeigt, weil die DDR dagegen protestiert hatte. Wie verhalten sich solche Entscheidungen mit dem Anspruch, ein politisch unabhängiges Festival zu präsentieren?
Dieser Film stand für das Forum nicht zur Debatte, glücklicherweise kann ich vielleicht sagen, denn das ist natürlich ein heißes Eisen. Wie immer man damit umgeht, man kann eigentlich nur die falsche Entscheidung treffen. Für uns stand er nicht zur Debatte, denn es war kein experimenteller oder innovativer Film, und ich habe ihn bis heute nicht gesehen. Wenn dieser Film ausgewählt worden wäre, hätte man sich sicher einen erheblichen politischen Konflikt aufgehalst. Solche politischen Konflikte gab es ja öfters. Am schlimmsten war wohl „The Deer Hunter“, wo dann die sozialistischen Länder mit Boykott antworteten und abreisten. Es gab auch auf anderen Festivals Versuche der Einflussnahme, meistens seitens der Sowjetunion.

„Diese Regisseur sind unsere Stars“

Sind Sie als Festival-Leiter auch ein bisschen stolz darauf, Leute wie Vincent Gallo, Steve Buscemi oder William Defoe mitentdeckt zu haben, die heute Stars sind?
Auf Stars sind wir eigentlich nicht fixiert, sondern auf die Autoren und Regisseure. Und da kann ich schon sagen, dass wir viele Regisseure, die Filmgeschichte mit schreiben, immer wieder bei uns gehabt haben: Theo Angelopoulos, Chantal Acker-mann, Mrinal Sen, Jim Jarmush usw. Wir haben immer wieder Talente und Regis-seure gefunden, die einen neuen Stil zeigen, auf eine ganz persönliche Art eine Geschichte erzählen, ein Porträt entwickeln oder auch in die Situation ihres Landes intervenieren, um Missstände an den Tag zu bringen. Diese Regisseure sind unsere Stars.

Wie hat sich in den 80er Jahren die „Perestroika“ auf das Forum ausgewirkt?
Perestroika war eine Zeit, wo sich plötzlich enorme Chancen auftaten. Eigentlich eine ganz glückliche Periode, weil das alte System noch da war, in seinen wirtschaftlichen Strukturen, die es ja möglich machten, Filme zu drehen. Und gleichzeitig fiel die politische Kontrolle mehr und mehr weg. So gab es Mitte bis Ende der 80er Jahre insbesondere in der Sowjetunion ein Überangebot von Filmen, die uns interessierten. Da traten dann Regisseure wie Alexander Sokurow hervor. Das war eine tolle Zeit. Allerdings fragten wir uns bei vielen dieser Filme: „Wer, zum Teufel, soll diese Filme jemals sehen?“ Da waren viele ganz schwierige, formal-avancierte Filme, die überhaupt keine Kinokarriere haben konnten. Das gab es ein paar Jahre, und dann hörte es auf.

„Shoa“ war da vielleicht ein Höhepunkt

Filme über die NS-Zeit und Vergangenheitsaufarbeitung gibt es auffällig viele. Su-chen Sie gezielt nach diesen Werken, oder kann man diese gar nicht übergehen?
Beides. Wir gehören zu der Generation, die in der Nachkriegsgeneration groß geworden ist. Und das war für uns ein so entscheidendes Erlebnis, was da passiert ist. Und in gewissem Maße tragen wir dieses auf unseren Schultern, ob wir wollen oder nicht. Auf der einen Seite haben wir diese persönliche Verpflichtung. Es ist eine Art erzieherische oder Bürgerpflicht. Auf der anderen Seite werden aber auch sehr viele exzellente Filme zu diesem Thema hergestellt. Und es ist ja eine Hauptaufgabe des Kinos, auch die Vergangenheit zu erforschen und zu bestimmen: „Wer sind wir? Was für Menschen sind wir? Und wo leben wir? Und wohin gehen wir?“ Und da muss man sich zwangsläufig mit der Geschichte beschäftigen. Aber es gibt natürlich auch andere Bereiche wie z. B. das kommunistische System, das ja auch untersucht wird. Hier, scheint mir, greifen vielfach die Methoden des dokumentarischen oder essayistischen Kinos mehr und eröffnen größere Möglichkeiten als die fiktionale Rekonstruktion. Die Vorgänge kann man auf der Leinwand teilweise nicht zeigen, weil sie sich der Darstellbarkeit entziehen. Und das ist eben die große Aufgabe des Dokumentarfilms. „Shoa“ war da vielleicht ein Höhepunkt. Aber es gibt auch andere schwierige Fragen: Die Unterschiede und Ähnlichkeiten z.B. zwischen Nazi-System und Sowjet-System. Eine ganz besonders heikle Frage, mit der wir noch keineswegs fertig sind.

Es gibt das Gerücht, dass der finnische Regisseur Aki Kaurismäki mit seinen Filmen ausschließlich im Forum auftritt, da einer seiner frühen Filme vom Wettbewerb abgelehnt worden sei?
Es gab wohl einmal einen Film von Kaurismäki, der eingeladen wurde, und dann unter merkwürdigen Umständen wieder ausgeladen wurde. Denn die Zahl der Wettbewerbsplätze ist begrenzt, und es kommt vor, dass plötzlich noch ein ganz wichtiger Film auftaucht, und man muss Platz schaffen. Natürlich darf man einen Film deswegen nicht wieder ausladen. Ich habe diese Vorgänge damals nicht direkt erlebt. Ich weiß nur, dass Aki Kaurismäki zu uns kam und sagte, dass er sich solch ein Unrecht nie wieder gefallen lassen würde und ob wir denn nicht seinen Film haben wollten. Es war „Ariel“, und der Film gefiel uns ausnehmend gut. Wir haben ihn dann selbstverständlich eingeladen und festgestellt, dass wir auch auf der menschlichen Ebene gut harmonierten und dass Kaurismäki auch unsere Veranstaltung und unsere Art der Präsentation gut gefiel. Und so kam es, dass, wenn er einen neuen Film hatte, den meistens bei uns zuerst herausgebracht hat. Wenn ein Regisseur da ist, der einem auf diese Weise die Treue hält, und immer wieder kommt, dann ist das natürlich wunderbar.

„Manchen Filmemacher sind ihre eigenen Gegner“

Was empfinden Sie dann, wenn Sie sehen, wie sich Kaurismäki, Fassbinder oder Assi Dayan systematisch zugrunde richten? Schmerzt Sie das?
Es ist natürlich bei manchen Leuten so, dass sie ihre eigenen Gegner sind, dass sie sich den Teppich wegziehen, auf dem sie selbst stehen. Bei Kaurismäki würde ich sagen, der müsste ein etwas anderes Leben führen. Aber das ist natürlich leicht, von außen etwas zu sagen. Wenn er ein anderes Leben führte, könnte er vielleicht gar nicht die Filme machen, die er bisher gemacht hat. Bei Kaurismäki ist es schon traurig. Manche Filmemacher machen wunderbare Filme, und man denkt, das müssten ganz wunderbare Menschen sein. Oft sind es dann aber auch sehr schwierige Menschen. Eitelkeiten stehen im Wege, dies und jenes. Fassbinder hat sich auch auf gewisse Weise selbst zerstört. Und da kann man auch von außen keinen guten Rat geben. Das ist ausgeschlossen.

Nach dem Mauerfall wurden 1990 die „Tresorfilme“ („Spur der Steine“, „Carla“ u.a.) aus der DDR gezeigt, und die Berlinale fand erstmals in ganz Berlin statt. Wie haben Sie das erlebt?
Die Verbotsfilme zu zeigen war natürlich ein ganz besonders interessantes Unter-fangen. Und wir waren Feuer und Flamme, als sich zeigte, dass eine solche Mög-lichkeit besteht. Man bewegte sich ja zunächst mal etwas tastend auf diesem Ter-rain. Wir mussten ja erst einmal Spielorte in Ost-Berlin finden. Und die Verbotsfilme waren natürlich das Thema schlechthin – für den ganzen Ostblock und besonders für die DDR, aber auch für die Westdeutschen. Es ist ein Kapitel der deutschen Filmgeschichte, dass hier 1965 ein ganzer Jahrgang sozusagen wegradiert wurde. Und von dem Umfang dieser Vorgänge hat sich niemand so recht ein Bild gemacht, außer die wenigen, die das miterlebt haben. Vor der Berlinale gab es eine Präsentation in der Akademie der Künste in Ost-Berlin, damit es erst einmal eine Art Selbstreinigung oder „Selbstfehlerdiskussion“ im eigenen Lande geben konnte. Die Akademie der Künste war natürlich ganz voll. Alle wichtigen Leute, die in der DEFA damals mitgearbeitet hatten, saßen an einem riesenlangen Tisch. Es waren leidenschaftlich aufgeladene Gespräche, die teilweise auch wütend, zornig, aber auch melancholisch, bis hin zu depressiv verliefen.

„Dann warf Christopher Doyle plötzlich den Funken ins Pulverfass“

Die 90er Jahre waren aber auch eine Art Geburtsstunde des asiatischen Kinos. 1996 kam gar ein Drittel der Berlinale-Filme aus Asien. Worauf ist dieser Boom zurückzuführen?
Da gibt es mehrere Faktoren: Es mag sein, dass wir aufmerksamer in andere Bereiche schauen, gerade auch in die asiatischen. Es mag auch etwas mit Wirtschaft und Politik zu tun haben. Ganz so neuartig ist diese Entwicklung aber auch nicht: China hat ein großes Auf und Ab erlebt. Die ganz frühen chinesischen Filme sind leider unbekannt. Dann kam die Kulturrevolution, und dann fand fast nichts mehr statt. In Japan dagegen haben die Kinematographen schon immer hervorragende Leistungen gezeigt, z.B. in den 50er und 60er Jahren, einer filmischen Dürreperiode in vielen Teilen der Welt. Da waren in Japan die ganz großen Meister am Werk: Kurosawa, Ozu, Mizoguchi. Und dann gab es in den 70er Jahren Oshima und Ima Mura. Also im japanischen Kino war immer was los. Ein völlig neues Phänomen war das Taiwanesische Kino. Da war so etwas wie eine Explosion, eine Generationsablösung. Plötzlich öffneten sich Bereiche, die es vorher nicht gab. Dann ist da noch das Indische Kino, das natürlich auch schon sehr alt ist. Und Hongkong ist eben auch so ein Ort und ein Schmelztiegel hinzu. Der Regisseur Wong Kar-wai z.B. hat viel aus der chinesischen Tradition aufgenommen, hat sich aber auch der westlichen Welt geöffnet. Dann kommt ein australischer Kameramann hinzu wie Christopher Doyle, der plötzlich den Funken ins Pulverfass wirft, und eine neue Erzählweise und Ästhetik flammen auf. In Hongkong gibt es eine große Filmindustrie, die seit Jahrzehnten Filme macht, und die sind eben zum Teil übersehen und ignoriert worden. Und plötzlich hat man angefangen, von einem kollektiven asiatischen Phänomen zu sprechen. Aber das war eigentlich nur die Zusammenführung von einzelnen Phänomenen, die es schon gab. Und das Hongkong-Kino macht uns vor, dass es ein industrielles, geradezu kommerzielles Kino geben kann, das so temperamentvoll, so vital und für uns natürlich auch so exotisch ist. Plötzlich kam dann auch wieder das chinesische Kino – also das Festland-Kino – in die Gänge, und brachte einige Regisseure wie z.B. Chen Kaige, die einerseits die Geschichte ihres Landes examinieren, andererseits große, opernhafte Filme mit einer Ausstattung zelebrieren, wie andere Kinematographien das nicht können. Also es kam dies alles zusammen zu einer kumulierten Wahrnehmung, und der Filmkontinent Asien war geboren.

Es scheint ein Gesetz zu geben, dass Filmfestspiele im Laufe der Jahre immer grö-ßer werden. Godar träumte einmal von einem Fest, auf dem nicht mehr als zehn Fil-me gezeigt würden.
Wir leiden an einer Überfülle von Filmen, das stimmt. Wir versuchen es zu reduzieren, aber das ist äußerst schwer: Die Weltproduktion ist quantitativ stark gestiegen, und die Kommunikationswege sind perfekt ausgebaut. Wenn irgendwo auf der Welt ein Film gedreht wird, dann haben sie morgen schon die Kassette auf dem Tisch. Dann spielen die Festivals eine immer größere Rolle als Instrument der Lancierung und der Förderung von Filmen. Und dann tauchen Filmemacher auf, die einen mit erhobenen Händen anflehen, dies oder jenes zu zeigen. Das sind oft sehr sympathische Leute, die etwas riskiert haben, und man möchte ihnen helfen. Aus all diesen Erwägungen kommt man dazu, das Programm größer zu machen. Dann gibt es noch die thematische Differenzierung – ein weltweites Phänomen. Wenn Sie die Festivals in Toronto, Rotterdam oder Hongkong besuchen, dann sehen sie mindestens 150 Filme. Und leider sind Filmfestivals so etwas wie Supermärkte geworden. Wir versuchen im Forum, noch ein bisschen die Identität zu bewahren. Filme nicht aus diesen oder jenen Gesichtspunkten zu nehmen, sondern Filme zu nehmen, an die wir glauben. Insofern haben wir noch ein Profil. Aber jetzt wird immer mehr auf Video gedreht. Sollen wir deshalb die 16- und 35mm-Filme einschränken, weil immer mehr auf Video gedreht wird? Wir versuchen uns im Forum auf 70-80 Filme zu beschränken. Das kann schon fast kein Mensch mehr sehen. Aber die Zuschauer geben uns Recht, denn die Kinos sind immer voll. Es ist kaum zu glauben, aber die Kinos sind immer voll.

„Die Filmemacher brauchen die Zensur…“

Sie haben einmal gesagt, Filme seien wie Seismographen, die eine bevorstehende Entwicklung zeigen, bevor sie allen deutlich wird. Ich habe keine Filme gesehen, die den Vietnam-Krieg, die Perestroika oder die deutsche Wiedervereinigung vorweg genommen hätten.
Es kommt darauf an, welche Art von Kino sie betrachten. Die Filme von Tarkowski z.B. zeigen einen totalen Klimawandel. Sie zeigen, dass es ein Bedürfnis nach Metaphysik und Religion gibt, welches der Staat 70 Jahre lang versuchte, den Bürgern auszutreiben. Mit dem Resultat, dass es weiterlebt. Für eine andere Denk- und Empfindungsweise könnte man auch in ungarischen und polnischen Filmen Bei-spiele finden, wo die Filmemacher versuchten, Dinge zu sagen, die sie aber aus Zensurgründen nicht so ausdrücken konnten. Sie können überhaupt feststellen, dass unter repressiven Umständen mitunter die besten Filme gemacht werden, so dass man fast sagen könnte: „Die Filmemacher brauchen die Zensur, damit sie im Kampf dagegen ihre Energien schärfen.“ Das trifft z. B. auch für den Iran unter dem Schah-Regime, aber auch unter dem heutigen Regime zu, unter dem ja alles andere als freiheitliche Verhältnisse herrschen. Und das Iranische Kino ist ganz hervorragend, obwohl bzw. weil sie ständig mit ihrer Zensur kämpfen müssen. Wenn man richtig hinguckt, dann kann man die Seismographen-Funktion des Kinos auch in der Frühzeit des Deutschen Kino sehen, z.B. in „Das Kabinett des Dr. Caligari’“.

Gab es in den 30 Jahren Ihrer Forums-Zeit eigentlich auch Momente, wo Sie alles hinwerfen wollten?
Nein, denn im Kino der ganzen Welt passieren immer irgendwelche aufregenden und neuartigen Dinge. Da gibt es immer Regisseure, wo es eine Freude ist, mit de-nen was zu tun zu haben und ihnen zu helfen. Aber auf der anderen Seite soll man einen Job auch nicht allzu lange ausüben, und ich hätte den Zeitpunkt auch schon etwas früher gewählt, aber da gibt es viele Verkettungen mit den übrigen Konstellationen der Filmfestspiele und insbesondere mit meinem Kollegen, Herrn de Hadeln: „Die Verträge, die laufen bis dann und dann. Ach, bitte, machen Sie das doch noch mal, damit hier dieses Gleichgewicht besteht.“ Es gibt so viel zu tun, und alles hängt irgendwie zusammen. Auf der anderen Seite ist jetzt wirklich der Moment gekommen. 30 Jahre sind genug.

Illegale Vorführungen und dunkle Treppengänge

Es gibt die Anekdote, dass Sie, als Sie zum ersten mal in New York waren, vierzehn Tage bei Sichtungen im Kino gesessen hätten, ohne sich die Stadt anzusehen?
Nun, das ist eine amüsante und nette Erfindung, die vielleicht eine gewisse Wahr-heit ausspricht. Denn wir kommen ziemlich viel herum, und im Wesentlichen steuern wir dann in der Tat Vorführsäle an und sitzen da und sehen die Realität des Landes häufig nicht in der Realität, sondern auf der Leinwand. Aber auf der anderen Seite jagt man in bestimmten Städten herum, um in irgendwelche obskuren Laboratorien oder Hinterzimmer mit Schneidetischen zu kommen. In Korea waren wir sogar in illegalen Vorführungen, wo man durch dunkle Treppengänge mit einer Kerze gehen musste, denn alles, was sich da abspielt, ist illegal. So etwas erlebt man dann also auch. Ich hoffe nicht, dass wir mit Scheuklappen durchs Leben gehen. Aber es ist schon wahr, dass wir in vielen Ländern die Vorführsäle ganz gut kennen, und andere Dinge müssen wir auf später verschieben.

Sie waren öfter auch als möglicher Berlinale-Leiter im Gespräch. Hätten Sie den Job gerne angenommen, und wie hätte der Wettbewerb unter Ulrich Gregor ausgesehen?
Ich bin eigentlich ganz froh bin, dass ich mit diesem Amt nicht ausgestattet wurde, denn ich kann mir schwer vorstellen, dass ich so viel Kompromisse machen würde. Im Bereich „Wettbewerb“ oder „Industrielles Kino“ geht es ohne Kompromisse nicht. Da stehen so viel Empfindlichkeiten im Raum. Und auch den diplomatischen-politischen Interessensphären kann man sich manchmal nur sehr schwer entziehen. Ich möchte, wenn ich einen Film zeige, diesen auch wirklich vertreten können. Und dann: In was für Büros muss man gehen, mit was für Menschen muss man verhandeln? Ich gehe lieber in den „New York News Reel“ und sehe dort Menschen, die mit geringen Mitteln versuchen, die Welt zu verändern, als dass ich mich in den Hollywood-Büros bewege. Ich habe vielleicht nichts gegen diese Menschen, aber es ist halt nicht meine Welt.

Wollten Sie eigentlich nie selber einen Film machen?
Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich einen Film machen würde, denn es gibt so viele Filmemacher auf der Welt und nicht alle machen gute Filme. Der Filmemacher Clemens Klopfenstein hat einmal gesagt, man müsste den Regisseuren Geld dafür zahlen, dass sie keine Filme mehr machen. Das wäre für den Staat viel billiger. Es gibt so viele Filmemacher, warum muss nun noch ein weiterer hinzukommen. Und ich habe so viele Dinge, die mich interessieren, an denen ich wirklich hänge. Ich muss nicht unbedingt Filme machen.

„Plötzlich waren die Diskussionen  so lebendig wie nie zuvor“

Wenn Sie von „wir“ im Forum sprechen, meinen Sie neben den vielen Mitarbeitern vor allem auch Ihre Frau Erika, mit der Sie seit über 30 Jahren zusammenarbeiten. Wo haben Sie Ihre Frau eigentlich kennen gelernt? Im Kino?
Ja, im Kino und im Umkreis des Kinos. Damals studierten wir beide an der Freien Universität, und es gab dort einen Filmclub. Ich wollte irgendwas mit Film machen und bin dann in diesen Filmclub gegangen . Dort haben wir uns tatsächlich bei Diskussionen und bei der Arbeit kennen gelernt. Im Anschluss an die Filme gab es nämlich Diskussionen, und da trat eine junge Dame auf, und plötzlich waren die Diskussionen äußerst angeregt und so lebendig wie nie zuvor. Diese Teilnehmerin musste ich mir unbedingt erhalten.

„Meinen Sie auch, dass in Peking ein starker Wind herrscht?“

Was müssen sich die Filmemacher erhalten, damit das Berlinale-Forum sich für sie einsetzt?
Ich fühle mich solchen Filmemachern verbunden, die ihrer eigenen Persönlichkeit entsprechend arbeiten, ohne auf den Erfolg zu schauen, auf den Markt und das Geschäft – die diese Dinge souverän verachten. Das ist aber ganz selten. Und man kann es den Leuten auch nicht übel nehmen, wenn sie versuchen, ihren Weg durch Anpassung an den Markt zu machen. Aber gleichwohl fahnden wir nach ganz anderen Bahnen und Bewegungen. Und hin und wieder treffen wir auf solche Filme. Im letzten Jahr hatten wir aus China ein Werk, das hieß „Gibt es einen starken Wind in Beijing?“ Ein kleiner Film von 40 Minuten, der angeblich nur 500 Dollar gekostet hat. Wo ein Filmemacher in Peking auf die Straße geht und den Menschen die seltsame Frage stellt: „Meinen Sie auch, dass in Peking ein starker Wind herrscht?“ Eine Frage, auf die man zunächst keine Antwort geben kann. Das ist so ein wunderbarer, subversiver Film, ein Film mit Humor. Ich meine, das müssten sich die Filmemacher erhalten, das Subversive und den Humor. Man darf sich nicht zu ernst nehmen und muss in der Lage sein, das Kino auf den Kopf zu stellen oder vom Kopf auf die Füße und etwas völlig anderes und Neuartiges zu machen, worauf noch keiner gekommen ist. Und ab und zu glückt es mal. Und diese zarten Pflänzchen müssen wir aufspüren.