„Wir führten das Kino als Kollektiv und zeigten unser eigenes radikales Programm“
Wieland, wie sahen deine Lebenspläne aus, als Du 1972 nach West-Berlin kamst?
Ich kam aus Freiburg im Breisgau. Eine Stadt, die ganz vorne weg war beim 68er Aufstand. Da war ich früh auf der Straße als Linker, aber auch als Schwuler. Das waren die ersten emanzipatorischen Ansätze, was Homosexualität betrifft. Dazu musste ich jetzt nicht in die große Stadt fliehen, um mich zu finden, sondern ich bin nach Berlin gegangen, um mich weiter zu entwickeln. West-Berlin war die aufregendste Stelle, die ich bis zu diesem Zeitpunkt besucht hatte auf der Welt. Ich war Anfang 20 und hatte das Gefühl, dass man sich hier am besten erfinden kann. Was damals auch in sofern nötig war, als das es wenig Rollenmodelle gab. Es gab in den Frühsiebzigern nur das Rollenmodell der linken Studenten, die doch eher dogmatisch waren. Die Anarchie, die musste sozusagen erst noch in die Lebensentwürfe reingebracht werden. Das war ein Ansatz, der in Berlin machbarer erschien als sonst wo.

Wieland Speck leitet das Berlinale-Panorama seit 1992. Zurvor war er an gleicher Stelle Assistent von Manfred Salzgeber.
Wie wurdest du zum ersten Mal aufmerksam aufs Moviemento, damals noch Tali?
Das war 1974/75. Manfred Salzgeber hatte das Kino übernommen, wie er ja viele Kinos gerettet hatte in der Stadt. Nämlich davor, dass zur Supermarktfilia umgebaut worden wäre. Manfred Salzgeber fand damals auch das Arsenal Kino für das Berlinale-Forum, dessen Mitgründer er war. Das war eigentlich ganz typisch für die Denkungsweise damals: Sich die Kinos A nicht wegnehmen zulassen, B sie zu besetzen mit neuen Filmen, mit neuer politischer aber auch ästhetischer Herangehensweise. Als Manfred dann ca. 1977 die Stadt verließ, verkaufte er die Kinos. Dann mussten sich aus seinem Erbe heraus neue Konstruktionen bilden. Und eine Konstruktion war die Übernahme des Tali-Kinos durch eine Gruppe von Frauen. Das war aber nur für kurze Zeit, dann kam meine Generation als Kinomacher. Mit Elser Maxwell und später auch Blixa Bargeld und anderen Leuten führten wir das Kino als Kollektiv und zeigten dort unser radikales, eigenes Programm für eine radikale kleine Gruppe, die genau das richtig fand.
Kannst Du dich noch erinnern, wie das Kino damals aussah?
Das Kino war nicht in einem schlechten Zustand. Wir bekamen dann Kinositze aus einem anderen Kino am Hermannplatz, das leider zugemacht hatte. Wir machten alles selber, ganz klar. Die Vorführtechnik war damals so, dass man alles selber bedienen konnte. Also ich führte vor, putzte das Klo, stand an der Kasse und verkaufte Prickel Pit und Langnese Eis. Und das machte jeder von uns. Gleichzeitig zeigten wir die Filme, die wir zeigen wollten. Also im Prinzip ein Paradies, das natürlich wie immer am Hungertuch nagte…
Wie war der Einstieg?
Der Einstieg ins Tali war ein Einstieg wie in viele Projekte damals: Das lief übers Nachtleben. Da trafen sich eigentlich fast alle, die irgendwie interessant waren, in einer Hand voll Läden. Der Dschungel am Winterfeldplatz gehörte da natürlich dazu, wo jetzt das Slumberland ist. Da trafen sich Rocker, verrückte Künstlertypen, Existentialisten. Alle rannten da rum. Und so kam ich dann auch in zum Tali-Kino. Wir hatten nämlich einen Laden in der Belziger Straße in Schöneberg, der uns aber nicht alle ernährte.
Wen meinst Du mit wir?
Wir waren eine Männerwohngemeinschaft, wohlgemerkt damals. Und es war keine schwule Wohngemeinschaft, sondern wir waren da einen Schritt weiter gegangen. Wir wollten die Emanzipation des Mannes erarbeiten und erkämpfen. Weil wir dachten, dass sich dann die Schwulen-Emanzipation sowieso von selber erledigt. Der Gedanke ist sicher nach wie vor richtig, aber gleichzeitig auch sehr schwer erreichbar. Wie auch immer: Es gab den Männerrat und verschiedene Leute, die auch heute noch überall herum spuken in der Macher-Szene, waren dort mit dabei. Da waren dann auch schon die späteren Kollegen vom Tali-Kino drin.
Wie sah euer Publikum damals aus?
Das Publikum sah im Prinzip genau so aus wie wir. Das waren (lacht) in der Regel versprengte Figuren, die in Berlin aufgelaufen waren, um hier etwas zu erleben, weil sie das Gefühl hatten, es woanders nicht erleben zu können. Es ging aber nicht nur ums Erleben, sondern vor allem auch ums Gestalten. Das war eine sehr kreative Bande. Manchmal aber auch sehr wenige, weil es nun mal nicht so viele außergewöhnliche Menschen gibt. Und wenn man 170 Kinoplätze hat, dann muss man schon gucken, ab wie viel man sagt: „Okay, zeigen wir den Film jetzt oder nicht?“ Manchmal sagten wir uns auch bei dreien: „Dann zeigen wir ihn halt für drei.“ Aber das waren dann die drei Richtigen .Das war eine Denkweise, die wesentlich mehr qualitativ motiviert war als quantitativ.
Ihr wart, glaube ich, auch ein Premierenkino – aber ohne Roten Teppich.
Ja, das war ja in den 70er Jahren, als diese neue Kinolandschaft entstand, an der Manfred Salzgeber maßgeblich beteiligt war. Parallel dazu bildete sich eine neue Filmemachergeneration. Und genau für diese Filme brauchte man auch die Kinos. Es war einfach eine Aufbruchzeit. Und wir hatten sehr viele Premieren von Berliner Filmemachern, aber auch von Filmemachern aus dem Bundesgebiet, z.B. Helmut Herbst aus Hamburg war da. Die Auseinandersetzung mit den Werken war für uns das Interessante. Wir sind aber auch in die Filmgeschichte gegangen und spielten sogar Filme aus der Nazi-Zeit. Die wollten wir uns genauer anschauen, weil sie uns bis dahin vorenthalten worden waren. Zarah-Leander-Schnulzen, Leni-Riefenstahl-Filme und so was. Wir wollten alle das wissen und kennen lernen, was man woanders einfach nicht zu sehen bekam.
Wie sah das mit dem Gestalten der Gesellschaft aus. Funktionierte das so, wie Ihr Euch das vorstelltet?
In den 70er Jahren war das noch weitgehend möglich, weil man wenig Geld brauchte. Wir selber brauchten persönlich wenig Geld, gleichzeitig brauchte man aber auch wenig Geld, um etwas nach außen zu bringen. Das waren günstige Voraussetzungen. Zum anderen gab es keine Rollenmodelle: egal, ob man das aufs persönliche Leben bezog, aufs Gruppenleben, auf die künstlerische Arbeit oder auf so etwas wie das Kinomachen. Es gab keine Rollenmodelle, also waren alle gezwungen, etwas zu erfinden, sich selbst zu erfinden. Das wiederum bot enorm viel Freiheit. Auch deshalb, weil die Leute, die nichts erfanden, also der normale Mensch so zu sagen, keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Alle erlebten das Erfundene zum ersten Mal. Man konnte nicht sagen: „Ach, das gab es doch schon viel früher oder so, was man heute dauernd zu hören bekommt. Wir erleben in allen möglichen Bereichen vor allem Remakes. Die Arroganz war ganz auf unserer Seite, auf der Seite der Leute, die in dem Alter waren, wo man Sachen ausprobiert und macht. Weil wir einfach das Gefühl hatten: „Was wir heute machen, das ist Zukunft. Und das, was die anderen heute machen, ist schon Vergangenheit.“