Daniel Cohn-Bendit: „Sur la route avec Socrates”

Die Linken in Brasilien sind viel nationalbewusster als die Linken in Europa

 

Fußball und Politik gehören für Daniel Cohn-Bendit immer zusammen. Während der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien reist mit einem bunten Campingbus 7.000 Kilometer durch das Gastgeberland, weit weg von den Spotlights der Stadien. Auf seinen Etappen trifft er Menschen wie Sócrates, der mit seinem Verein Corinthians in den 80er-Jahren gegen die Militärdiktatur protestierte, und ihm erzählt, mit welchen Problemen Politik und Fußball in Brasilien heute zu kämpfen haben. Außerdem unterhält sich Cohn-Bendit mit Größen wie dem Musiker Gilberto Gil, jungen Politikern, Dichtern und Künstlern, und er trifft die Brasilianer, während sie in den Bars oder in einer  Favela mit ihrer Selaçao fiebern.

 

Bernd Sobolla: Daniel Cohn-Bendit, waren die Sócrates` Proteste 1984 indirekt der Auslöser für diesen Film? Ich hatte den Eindruck, dass Sie auch sonst viele Beziehungspunkte zu Brasilien, zu den Menschen und ihrer Kultur haben.

 

Daniel Cohn-Bendit: Als bekannt wurde, dass Brasilien die Weltmeisterschaft ausrichten würde, habe ich erneut Kontakt zu Sócrates aufgenommen. Wir wollten gemeinsam einen Film während der Weltmeisterschaft in Brasilien machen, ohne genau zu wissen, wie der aussehen würde. Noch in der Vorbereitungsphase wurde Sòcrates sehr krank und starb an Leberzirrhose. Wir hatten aber schon vorbereitet, bestimmte soziale Situationen zu zeigen, in Verbindung mit der Stimmung zum Fußball. Das war unsere Idee. Ich hatte immer Sócrates Vergangenheit im Kopf und wollte da irgendwie anschließen.

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Daniel Cohn-Bendit: Tourte 7.000 Kilometer durch Brasilien, um Fußballfans zu treffen und soziale Zustände zu erkunden.

Bei mir herrscht eine Brasilien-Faszination

Wie sind Sie eigentlich aufgebrochen? Als Fußballfan, Brasilienfan, als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, als Alt-68er.

Ich bin 1983 mit meiner (damals noch) zukünftigen Frau nach Brasilien gefahren. Eigentlich wollte meine Frau nach Afrika und ich wollte in die USA. Brasilien war sozusagen ein Kompromiss.  Wir waren fünf Monate dort und wollten einfach etwas erleben. Ich hatte keine besondere Ahnung von der brasilianischen Kultur usw. Immerhin kannten wir einige Leute, hatten so einige Anlaufpunkte. Seit dieser Reise herrscht bei mir eine Brasilien-Faszination. Und nun wollte ich sehen, was 20 Jahre später aus dem Land geworden ist.

Können Sie beschreiben, mit welcher Idee von Brasilien im Kopf Sie 2014 dorthin kamen?

Ich hatte schon die Vorstellung, dass es eine soziale Bewegung gibt. Ich hatte ja 1983 auch Lula da Silva getroffen und ebenso Guerilla-Kämpfer, von denen heute viele eine gehobene gesellschaftliche Position haben. So etwas gibt es in Europa nicht. In Brasilien wurde der Guerilla-Kampf gegen die Militärs anerkannt. Das war für mich ein interessanter Hintergrund. Und dann wusste ich von den sozialen Bewegungen, z. B. von den Landlosen.

 Hoffnung auf ein Endspiel Brasilien : Argentinien

Nach welchen Kriterien haben  Sie Ihre Tour zusammengestellt?

Mein Interesse galt der brasilianischen Mannschaft. Meine Hoffnung war ein Endspiel zwischen Brasilien und Argentinien. Auf meiner Tour folgte ich also den Stationen der brasilianischen Mannschaft. Und ein bisschen haben wir uns auch überraschen lassen.

Was war für Sie die größte Überraschung im Rahmen Ihrer Treffen mit den vielen Menschen?

Die Überraschung ist, dass es noch immer diese unglaubliche Faszination für die Nationalmannschaft gibt. Die Leute konnten politisch so links sein, wie sie wollen, trotzdem ist Brasilien ihr Herz. Die sind viel nationalbewusster als Linke in Europa.

Ausgeprägtes politisches Bewusstsein

Mir ist aufgefallen, dass fast alle Leute, die sie getroffen haben, in der Lage sind, ein sehr differenziertes Bild des Landes aufzuzeigen. Auch relativ einfache Leute. Lag das an Ihrer Auswahl der Leute oder ist das in Brasilien einfach so?

Das ist in Brasilien so. Es gibt schon ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Allerdings haben wir im Schnitt natürlich auch die besten Momente herausgesucht.

Es gibt überall Leute, die die sozialen Spannungen artikulieren können. Sie selber schienen mir etwas enttäuscht, dass die vierzehn Jahre linke Regierung in Brasilien so wenig verändert haben.

Wir wissen, dass diese Regierung Lula die Ärmsten schon geschützt hat. Aber wenn man sich die Gewalt anguckt, den Drogenhandel, wie schwer sie sich tun, den indigenen Stämmen Land zuzuweisen, eine Landreform zu machen… Gilberto Gil sagt, man müsse Geduld haben. Aber manchmal platzt einem auch einfach der Kragen.

Soziale Veränderungen entwickeln sich nur langsam

Von Geduld spricht nicht nur Gilbet Gil, sondern auch andere Leute, denen Sie begegnen. Ist Geduld etwas, was wir in Europa verlernt haben?

Es gibt auch Brasilianer, die sehr eruptiv sind. Aber diejenigen, die bewusst sind, verstehen, dass soziale Veränderungen ganz langsam von statten gehen. Das braucht Geduld. Ich habe gerade einen Dokumentarfilm in Indien gedreht, und in solchen Ländern muss man sowieso viel Geduld haben. Das fehlt uns in Deutschland vielleicht.