Das älteste Kurzfilmfestival der Welt kämpft kontinuierlich gegen die Kräfte des Marktes
1954 fuhr der damalige Filmdezernent Hilmar Hoffmann gemeinsam mit der Bürgermeisterin Luise Alberts in den Concordia-Stollen von Oberhausen, um dort in einigen hundert Metern Tiefe die 1. „Westdeutschen Kulturfilmtage“ zu eröffnen. Das war einerseits ein PR-Gag, um die Presse in die kulturpolitische Diaspora zu führen. Denn in Oberhausen gab es ja nur Ruß und Kohle. Andererseits wollte Hoffmann zugleich ein Signal dafür setzen, was er sich erhoffte: Nämliche Filme vorzustellen, die aus dem Untergrund kommen, die Unbekanntes zeigen und zugleich neue Horizonte eröffnen – sowohl inhaltlich als auch formal. Die Presse war begeistert und forderte, dass dies nicht ein einmaliges Erlebnis sein sollte, sondern dass es ein richtiges Festival geben sollte. Gesagt getan: Aus den „Westdeutschen Kulturfilmtagen“ wurden später die „Internationalen Kurzfilmtage“, und diese feierten 2014 ihren 60. Geburtstag.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters besucht die 60. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Festivalleiter Lars Henrik Gass führt sie zur Lichtburg.
Lars Henrik Gass (*1965) leitet seit 1997 die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. Er hat viele Kritiken und Essays über Fotografie, Film und kulturpolitische Themen geschrieben bzw. zahlreiche Vorträge gehalten. Er ist Mitherausgeber des Bandes „Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen“ (2012) und hat das Buch „Film und Kunst nach dem Kino“ veröffentlicht (Fundus – Philo Fine Arts, 2012)
Bernd Sobolla: Lars, die Kurzfilmtage feierten 2014 ihr 60-jähriges Bestehen. Was bedeuten die Kurzfilmtage für Oberhausen?
Lars Henrik Gass: Die Kurzfilmtage sind das größte und älteste Filmfestival hier in Nordrheinwestfalen, und sie stellen auch ein ganz erkennbares Gegengewicht dar gegen die, wie ich es nenne, „Telerisierung“ des Filmgeschehens insgesamt. Also insbesondere die ganz starke Orientierung an den Markt, der durch die Medienstiftung gegeben ist. Die sich in letzter Zeit auch der Spiele-Industrie angenähert hat. Da, finde ich, braucht es einen kreativen Gegenpol. Beides ist wichtig, erklärt aber auch, warum wir uns auf der anderen Seite des Marktes befinden.
Die ersten Jahrzehnte waren gekennzeichnet durch einen Kampf gegen politische Einflussnahme. Was ist heute Dein größter Kampf?
Es geht eher um Fragen, wie man die eigene Arbeit legitimiert in einer Situation, in der der Kurzfilm aus dem Marktgeschehen – zumindest nach einer konventionellen Vorstellung von Markt – völlig herausgenommen ist. Wir stehen vor einer Situation, dass immer mehr Filme entstehen, auch immer mehr Kurzfilme, die immer weniger kommerziell ausgewertet werden und die nach einer Öffentlichkeit suchen. Und in dieser historischen Situation muss ein Festival wie Oberhausen sich fortwährend legitimieren.
Mauern, Begrenzungen, Einengung sind die Themen des diesjährigen Festivals: Entspricht das dem Zeitgeist, der sich in den Filmen insgesamt widerspiegelt?
Es ist so, dass in einer globalisierten Welt, und das beste Beispiel ist ja im Moment die politische Auseinandersetzung in der Ukraine, dass die Frage der Nationalität, der Identität, von Nationalstaatlichkeit, von Grenzen, dem Eigenen und dem Fremden eigentlich immer stärker sich konturiert. Das findet natürlich auch Niederschlag in den Filmen. Wobei ich dazu sagen muss, dass wir nicht versuchen, das abzubilden, was wir gewissermaßen proportional im Ganzen gesehen haben. Sondern wir versuchen bestimmte Schlaglichter zu setzen, um auch hier Diskussionen ins Festival zu bringen.
Wofür stehen die Kurzfilmtage heute in dem riesigen Konglomerat, das sich Filmbranche nennt?
Die Kurzfilmtage sind innerhalb der Filmbranche, wenn man diesen Begriff überhaupt benutzen darf, sozusagen der Urwald, in dem alles wachsen, verfallen und neu wachsen darf und man sozusagen ein Experimentierfeld hat, in das nicht weiter eingegriffen wird und worin sich auch die Filmsprache und auch die Filmemacher selbst erneuern können. Jedes gute Industrieunternehmen hat ein Labor, und Oberhausen ist das Labor der Filmbranche.
Welchen Stellenwert hat das Seminar, das 2016 zum dritten Mal stattfindet?
Wir beobachten, dass sich die akademischen Denk- und Arbeitsweisen und die künstlerischen Denk- und Arbeitsweisen häufig sehr stark verselbständigen. Und unser Anliegen ist, diese Bereiche wieder stärker aufeinander zu beziehen. Und wir glauben, dass ein Festival, es könnte aber auch eine andere Veranstaltung ähnlicher Art sein, ein sehr guter Raum ist, um diese Arbeitsweisen wieder einander näher zu bringen und auch produktiver zu machen. Denn das Problem ist häufig, dass im akademischen Bereich sehr wenig gesehen wird und man sich an alten Beispielen, an alten Paradigmen ausrichtet, während man im künstlerischen Bereich manchmal auch ein wenig den Kontakt verliert zur Film- und Kunstgeschichte und auch zu bestimmen Begriffen, die über die Jahre entwickelt und diskutiert worden sind.
Was wünscht Du dir für die Zukunft der Kurzfilmtage?
Wir stehen vor der Situation, dass der künstlerische Film, der in Oberhausen historisch gesehen immer nicht nur eine, sondern die wichtigste Position einnahm, mittlerweile im Wesentlichen durch die Kunstwelt vertreten wird. Ich glaube, dass wir bei Weitem noch nicht alles ausgeschöpft und zu Ende gedacht haben, wie Filmfestivals sich entwickeln könnten. Das gilt auch mit dem Blick auf den Niedergang des kommerziellen Kinos, für den ich viele Indizien sehe. Da gilt es, sich als Festival zu positionieren. Das Kino verliert als kommerzielle Auswertungsform von Filmen an Bedeutung, und das hat natürlich großen Einfluss auf die Filmfestivals, die ja durchweg in Kinos stattfinden. Und es taucht generell die Frage auf, wie wir zum Kino als Kulturtechnik stehen. Denn es ist erkennbar ein Unterschied, ob ich ein Filmfestival in einem Kino durchführe oder in einem White Cube oder an musealen Orten.