Inge Viett – Über Terroristen im Film und „Die Stille nach dem Schuss“

„Es geht nicht um Deutschland, sondern um kapitalistische Verhältnisse“

 

Inge Viett (*1944) galt in den 70er Jahren als „Top-Terroristin“. Mit der „Bewegung 2. Juni“ war sie u.a. an der Entführung von Peter Lorenz beteiligt. In den späten 70er Jahren wurde sie Mitglied der RAF. Nach einem Schuss auf einen Polizisten in Paris, gab sie den bewaffneten Kampf auf und tauchte mit Hilfe der Stasi in der DDR unter, wo sie nach dem Mauerfall von westdeutschen Staatsschutzbehörden entdeckt wurde. Sie wurde zu dreizehn Jahren Haft verurteilt und kam 1997 vorzeitig aus dem Gefängnis. In dieser Zeit schrieb sie ihre Biographie „Nie war ich furchtloser“, die in der Edition Nautilus erschienen ist und die die Grundlage für Volker Schlöndorffs Film „Die Stille nach dem Schuss“ bildet.

 

Bernd Sobolla: Frau Viett, „Die Stille nach dem Schuss“ basiert im Wesentlichen auf Ihrer Biographie. Aber die Verfilmung von Volker Schlöndorff gefällt Ihnen überhaupt nicht. Warum?

Inge Viett: Personen, Figuren, die etwas aussagen sollen, muss man in ihrem Entwicklungsprozess darstellen, um dem Zuschauer die Aussage, die sie machen, glaubhaft zu vermitteln. Das vermisse ich in dem Film fast völlig. Die Figuren bleiben alle sehr oberflächlich. Es sind gute Schauspieler, das sieht man. Aber sie verstehen nicht, was sie sagen, weil sie die Prozesse hinter ihren Aussagen überhaupt nicht mehr kennen. Und wenn man sie z.B. antikapitalistische Parolen brüllen lässt, ohne die Zeit zu skizzieren, dann versteht niemand, was das soll. Es gibt keine Identifikationsmöglichkeit mit den Figuren, weder positiv noch negativ.

An welchem Punkt in Ihrem Leben hätte der Film ansetzten sollen?

Darum geht es nicht. Volker Schlöndorff hat von vorneherein darauf verzichtet, den gesellschaftlichen Kontext darzustellen, und das ist einfach nicht möglich. Das muss man nicht dokumentarisch machen, man kann es durch Geschichten erzählen. Aber darauf hat er verzichtet.

Der legendäre Banküberfall in Berlin, als Sie 1973 den Angestellten und Kunden Schokoküsse anboten wird im Film mit einer Off-Stimme untermalt, die davon spricht, dass das die leichteren Jahre gewesen seien. Stimmt das?

So, wie das dargestellt wird, steht diese Leichtigkeit eher für Verantwortungslosigkeit. Und das war es für uns überhaupt nicht. Wenn man von einer gewissen Leichtigkeit in den ersten Jahren erzählt, dann war es so, dass wir damals noch einen unheimlich großen Enthusiasmus hatten. Wir waren euphorisch und glaubten, wirklich etwas bewegen zu können. Aber zu sagen, es waren unsere leichten Jahre, und dann in dem Kontext der Bilder, die einen Anarchismus ohne Hintergrund zeigen, das ist verantwortungslos. Und darum ist es auch falsch. Es ist nie leicht, einen Banküberfall zu machen. Damit setzt sich jeder sehr ernsthaft auseinander. Und das hätte man auch zeigen können und müssen.

Sie kritisieren aber nicht nur die Art, wie die Ereignisse dargestellt werden, sondern auch dass falsche Fakten gezeigt werden.

Um deutlich zu machen, dass es sich um einen fiktiven Film handelt, hat Schlöndorff Geschichten eingebaut, über die er sagt: „So hätte es sein können.“ Bei einer Befreiungsaktion z.B. wird ein Anwalt erschossen. Der Zuschauer also glaubt, dass die Geschichte des Films von ihrer Substanz her authentisch sei, und dann werden Dinge gezeigt, die überhaupt nicht wahr sind. Eine Geschichte in dieser Härte ist nicht nur überflüssig, sie ist denunziatorisch. Denn es gibt keine Trennung zwischen Fiktion und Wahrheit. Es wird weder Geschichte vermittelt noch die damalige Atmosphäre gezeigt und schon gar nicht unsere Geschichte. Alles, was man sieht, ist Action.

Aber Volker Schlöndorff und sein Autor Wolfgang Kohlhaase wollten mit Ihnen ja zusammenarbeiten, was Sie ablehnten?

Ich wollte den Film nicht besprechen, denn das wäre mir als Mitarbeit ausgelegt worden. Den Film habe ich rundherum abgelehnt.

Sind Sie mit dem Teil des Films, der in der DDR spielt, zufriedener?

Nein, auch damit bin ich nicht zufrieden. Ganz schön ist immerhin die Zeichnung der Tatjana gelungen, die Freundin von,… von mir (lacht). Das hat gestimmt, das berührt. Da stimmen auch die Dialoge. Auch das Verhältnis zwischen den ehemaligen Militanten und der Staatssicherheit ist sehr gut getroffen. Da wird die Ambivalenz der Staatssicherheit zu den ehemaligen Aktiven deutlich: also einerseits die Staatspolitik, die sie vertraten, andererseits ihr eigenes Verhältnis zu uns, was immer ein bisschen sympathisierend war. Aufgrund ihrer Funktion konnte das aber nicht richtig zum Tragen kommen. Das war stimmig.

Gab es in der DDR zwischen den ehemaligen Aktiven Kontakte?

Das Bedürfnis war sicherlich da, zumindest bei den anderen ehemaligen aus der RAF. Aber mit denen hatte ich keine gemeinsame Geschichte, denn ich war ja erst zur RAF gekommen, nachdem die schon aufgehört hatten. Und ich hatte kein Bedürfnis, mich mit ihnen zu treffen. Ich wollte nicht, dass sie wissen, dass ich auch da war. Meine Zeit in der RAF war sehr schwierig, und ich hatte keine Lust, die Diskussionen darüber fortzusetzen. Aber ich weiß, dass es Kontakte gegeben hat. Aber sicherlich sind diese Treffen nicht so spektakulär zustande gekommen wie in dem Film. Auch das ist eine fiktive Geschichte.

Ein anderer Film über den Terrorismus, „Todesspiel“ von Heinrich Breloer, schildert die Schleyer-Entführung und erhielt vor zwei Jahren sehr viel Anerkennung. Wie haben Sie diesen Film empfunden.

Sie können nicht erwarten, dass ich übereinstimme mit Fernsehkriterien. Das Ganze war letztendlich ein Mainstream-Film im staatlichen Konsens. Was ich absolut verwerflich an dem Film finde, ist, dass er mit filmischen Mitteln – und zwar recht guten – die Staatsversion der Selbstmorde von Raspe, Bader und Ensslin in Stammheim festklopft, obwohl die nach wie vor völlig ungeklärt sind. Das finde ich ganz unseriös.

Gibt es einen Film zum Thema Terrorismus, dem Sie zustimmen würden?

„Stammheim“ von Stefan Aust und Reinhard Hauff hat mir gut gefallen. Ich weiß, dass er damals von den radikalen Linken sehr bekämpft worden ist, was ich nicht verstehe. Dieser Film hat die Schärfe der politischen Auseinandersetzung über diesen Prozess in Stammheim unheimlich deutlich gemacht. Es ist ein Film, der zeigt, dass es uns um Politik ging. Was ja völlig hinter dem Begriff „Terrorismus“ verschwindet. Und das ist in dem Film sehr klar geworden: Es war ein politischer Kampf, der mit militärischen Mitteln ausgefochten worden ist.

Ende der 60er Jahre wurde der „Weg durch die Institutionen“ ausgerufen, was zur Spaltung der Linken in gemäßigte und radikale führte. Sie traten der „Bewegung 2. Juni“ bei. Mussten Sie lange über die Entscheidung nachdenken?

Nein, das war für mich völlig klar. Den „Weg durch die Institutionen“ trat damals vor allem die Studentenbewegung ein. Dazu gehörte ich nicht. Man entscheidet sich ja nicht im Sinne von: Was ist jetzt richtig? Die Entscheidung resultiert viel mehr aus dem eigenen Lebensprozess heraus. Ich bin in Berlin in einer militanten Szene gewesen, in einer nicht-intellektuellen, einer subkulturellen Szene. Und für uns war sonnenklar, dass wir nicht den Rückzug antreten, sondern die Sache jetzt offensiv angehen würden.

Viele Ihrer damaligen Mitstreiter sind umgekippt und beim Verfassungsschutz gelandet, z.B. Harald Sommerfeld oder Ulrich Schmücker. Wie haben Sie reagiert?

Das tat natürlich immer weh. Abgesehen davon war es auch immer ein Einbruch in der Logistik. Und man hat wieder nachgedacht: „Was will ich? Wofür kämpft ich?“ Bin ich stark genug? Halte ich das durch? Es war immer bitter, wenn einer zusammengebrochen ist.

Es macht einen Unterschied, ob man eine Bank überfällt oder Menschen entführt. Bei ersterem gab es noch eine Menge Sympathien, insbesondere, als Sie noch Schokoküsse an die Leute in der Bank verteilten. Eine Art Gaudi, wenn man so will.

Es war überhaupt kein Gaudi, auch wenn es letztendlich so rüberkam. Es hatte eine wichtige strategische Funktion, eine Entspannungsfunktion. Wir wollten, dass die Leute nicht in Panik gerieten. Und durch solch eine Banalität wurden sie abgelenkt.

Die Entführung von Peter Lorenz war gleichzeitig ein weiterer Sprung in die Radikalität. War Ihnen klar, dass sie Sympathisanten verlieren und die Linke spalten würden.

Ja, natürlich. Aber nicht wir haben sie gespalten, sondern sie war bereits gespalten: Ein Teil wollte sich politisch etablieren, also in die Institutionen gehen, ein Teil wollte sich zurückziehen und studieren, und ein Teil wollte weitermachen. Also die Spaltung war bereits da. Natürlich forcierten wir durch unsere militanten Aktionen noch einmal eine Polarisierung. Das ist klar. Aber das ist in jedem Kampf, der sich zuspitzt, so.

Obwohl Sie Ende der 70er Jahre der RAF beitraten, hatten Sie immer ein sehr gespaltenes Verhältnis zu ihr. Warum?

Ich rede nicht gern darüber. Denn darüber zu reden, wirkt immer gleich sehr denunziatorisch. Und ich will die RAF nicht denunzieren. Sie hat ihre Versuche gemacht und wir unsere. Ich bin mit der Form, wie sie Kollektivität verstanden, nicht zu Recht gekommen. Mein Verhalten war einfach liberaler, nicht so ausschließlich. Ich meine, Veränderungen brauchen Prozesse, und Prozesse brachen ihre Zeit. Man kann nicht sagen: Ab heute sind wir alle neue Menschen! Das gibt Konflikte, die dann nicht mehr solidarisch gelöst werden können, weil bestimmte Anforderungen nicht erfüllt werden.

Sie gaben immer vor, für die Gesellschaft zu kämpfen. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung hätte alle Terroristen am liebsten an den Baum gestellt. Wie sind sie mit dieser Diskrepanz umgegangen?

Wir haben das natürlich gesehen und machten uns keine allzu großen Illusionen. Schließlich kannten wir auch die Geschichte der Bundesrepublik. Die Massen waren noch nicht weit von ihrer faschistischen Vergangenheit entfernt, die ungeheuer bewusstseinsprägend war, noch immer noch in den Massen steckte und schnell mobilisierbar war. Aber wir wollten Politik für die Fortschrittlichsten in dieser Masse machen, um sie in ihrer Entwicklung voranzutreiben.

Wer im Knast sitzt, kann aber nicht mehr viel vorantreiben. Für eine bessere Welt kann man auch anders kämpfen.

Die Grundlage unserer Diskussionen war, dass das, was wir tun, das Richtige ist. Heutzutage kommen natürlich Fragen wie: Was hat es euch das genützt? Generell können wir unsere Kämpfe nicht mit Erfolgskategorien belegen, sondern mit Bewusstseinskategorien. Nach Afrika zu gehen, und etwas für die Straßenkinder zu tun, das kann man tun, wenn man in der Gesellschaft, in der man lebt und aufgewachsen ist, keine andere Möglichkeit mehr sieht. Aber damals, als sich die revolutionären Kräfte weltweit in der Offensive fühlten und kämpften, da war es für uns das Falsche. Wir haben ja auch gesagt: Die Dritte Welt ist deswegen die Dritte Welt, weil es hier die Erste Welt gibt. Wir leben im Herzen, im Kopf der Bestie, und da haben wir unsere Aufgabe.“

Die letzten Jahre im Untergrund, bevor Sie in der DDR untertauchten, waren für Sie die miesesten.

Es war die Zeit, wo völlig deutlich wurde, dass der bewaffnete Kampf in der Bundesrepublik keine Perspektive hatte. Ich musste mich durchringen, aufzuhören. Und das war sehr schwierig ist. Schließlich hatte ich mein Leben damit verbunden, außerhalb der Gesellschaft zu kämpfen. Und so waren das schwere innere Entscheidungsprozesse für mich.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Ex-Terroristen fühlten Sie sich in der DDR dann wohl. Tauchte da nicht die Frage auf, warum Sie die DDR nicht früher als Lebensalternative sahen?

Nein, aber plötzlich erkannte ich, wie sehr wir nur mit uns selbst beschäftigt waren. Wie sehr wir nur das, was wir gemacht, als richtig und gültig betrachtet hatten. Mit anderen Formen des Gesellschaftskampfes hatten wir uns kaum befasst. Wir hatten keinen blassen Schimmer, dass andere Kämpfe auch etwas bewegen, vor allem eine andere Bewusstseinsform hervorbringen können, z.B. ein solidarisches, antikapitalistisches Bewusstsein. Angenehm in der DDR war, dass man dort nicht erst um ein Grundverständnis von Solidarität kämpfen musste. Ich habe mich mit den gesellschaftlichen, mit den moralischen Werten sehr identifiziert. Wie diese dann praktisch umgesetzt wurden, dass ist noch mal etwas ganz anderes. Natürlich war alles nicht mehr so bunt, und auch nicht mehr so intellektuell. Aber es war unheimlich bodenständig. Es gab einen gemeinsamen Boden, der angenehm war. Und ich lebte ich in einem gesellschaftlichen Konsens, der mir viel näher war als der im Westen.

Wie haben Sie sich auf das Leben in der DDR vorbereitet?

Ich befasste mich natürlich mit dem Aufbau des Staates, mit den Institutionen, mit der Sprache und den vielen Abkürzungen. Trotzdem bin ich in der ganzen Alltagssprache ständig aufgelaufen. Und dann war natürlich immer klar, dass ich aus dem Westen komme. Das machte die Sache sehr schwierig.

Wurden Sie denn überhaupt akzeptiert? Sie hatten den Leuten schließlich die Erfahrungen des Kapitalismus voraus?

Ja, natürlich. Einerseits war ich ja enorm privilegiert, weil ich viel mehr kannte. Ich kannte den Westen, wovon sie überhaupt keine Ahnung hatten. Aber im täglichen Leben stand ich nicht außen vor. Als ich mich eingelebt hatte, war ich genau so wie alle anderen.

Nach dem Mauerfall wurden Sie erneut verhaftet und kamen erst 1997 wieder aus dem Gefängnis. Dachten Sie mal darüber nach, Deutschland zu verlassen?

Ich bin nicht mehr 20 oder 30 Jahre alt. Ich habe schon manchmal den Wunsch, in ein anderes Land zu gehen. Aber wahrscheinlich würde es mir heute sehr schwer fallen, in einer anderen Kultur Fuß zu fassen. Außerdem denke ich auch heute, dass es wichtiger ist, hier zu bleiben, als z.B. in ein Land wie Kuba zu fahren. Dort wäre man Ausländer und würde wahrscheinlich ein hedonistisches Leben führen. Vielleicht sogar aufgrund von Privilegien, die man hat, weil man aus der Ersten Welt kommt. Das möchte ich auch nicht.

Können Sie sich mit dem heutigen Deutschland mehr anfreunden als mit der alten Bundesrepublik?

Mir geht es nicht um Deutschland, sondern um die kapitalistischen Verhältnisse. Und mit denen kann ich mich heute ebenso wenig anfreunden wie damals. Nur sah ich damals Perspektiven, diese vielleicht zu erschüttern. Die sehe ich heute nicht. Wahrscheinlich werde ich Deutschland nie frei von seiner Vergangenheit sehen. Sie wird ja auch immer wieder wachgerufen, z.B. durch den Kosovo-Krieg. Ich kann mich mit dieser Politik der Stärke einfach nicht anfreunden, die Deutschland immer wieder praktiziert.

Die von Ihnen angegriffenen kapitalistischen Verhältnisse, haben aber in vielen Ländern auch zu mehr Wohlstand geführt.

Vielleicht hat der Kapitalismus in den betreffenden Ländern die Lage ganzer Schichten verbessert. Aber was dieser Liberalismus, dieses „Anything Goes“ in den kapitalistischen Staaten möglich macht, das verursacht Tod und Elend in anderen Staaten. Das kann ich nicht übersehen. Nur weil hier jeder seine Nische finden kann, macht mir das den Kapitalismus nicht angenehmer, sondern gefährlicher.

Das Interview fand am 8. August 2000 in Berlin-Falkensee statt.