„Facebook und Social Media machen nicht glücklich“
Am 9. Oktober fand in der EU der erste „European Art Cinema Day“ statt. Mehr als 1.000 Kinos feierten an diesem Tag die Vielfalt europäischen Filmschaffens mit Filmgesprächen, Empfängen und Ausstellungen. Eines der wichtigsten Kinos (nicht nur) an diesem Tag war das Abaton in Hamburg: 1970 gegründet, damit eines der ältesten Arthaus-Kinos der Republik und mit 220.000 Besuchern pro Jahr eines der erfolgreichsten. Ein Gespräch mit Abaton-Boss Matthias Elwardt über die „Kunst des Kinomachens“.

Matthias Elwardt wird regelmäßig für sein Arthaus-Programm im Abaton ausgezeichnet.
Bernd Sobolla: Matthias, das Abaton wurde bereits 1970 gegründet und gilt als ältestes Programmkino Deutschlands. Wie kam es zu dem etwas kryptischen Namen.
Matthias Elwardt: Als das Abaton 1970 eröffnet wurde, hatten die beiden Gründer (Werner Grassmann und Winfried Fedder) die Idee, einen Namen zu nehmen, mit dem man im Alphabet immer an erster Stelle kommt. Und dann fanden sie im Brockhaus „Abaton“. Abaton ist das Innere des Tempels, der Platz für das Besondere, für die Eingeweihten, man kann auch sagen für Priester. Also die Akropolis in Athen ist z.B. ein Abaton. Wir haben sozusagen eine altgriechische Verbindungslinie.
Wer guckt denn heute noch konzentriert Fernsehen?
Stichwort Griechenland: Ihr zeigt z.B. den Dokumentarfilm „Athos – Im Jenseits dieser Welt“, der das Leben der Mönchen auf der gleichnamigen Insel beschreibt. Passen solche Filme eigentlich ins Abaton? Das Kino befindet sich mitten im Hamburger Universitätsviertel. Da würde ich in erster Linie politische Stoffe erwarten und nicht unbedingt religiöse Inhalte.
Zu den Stärken des Abatons gehört grundsätzlich auch der Dokumentarfilm. Wir haben hier jedes Jahr 70 bis 80 Starts und Premieren von Dokumentarfilmen, und zwar immer mit Regisseuren/-innen. Im Fall von „Athos“ ist Peter Bardehle der Regisseur, und er ist Hamburger. Wir haben bisher alle seine Premieren im Abaton veranstaltet. Peter Bardehle hat ja mit den „Von oben“-Filmen angefangen. Auch sein Spielfilm „Riverbanks“, den er produzierte und der in Griechenland spielt, feierte bei uns seine Premiere. Von daher gibt es eine Verbundenheit zum Regisseur und generell zum Dokumentarfilm.
Bei uns lief z.B. auch „Im Reich der Stille“ von Philip Gröning sehr erfolgreich, und wir zeigen jetzt „Zen for nothing“. D.h. auch spirituelle Filme, die von einer Kinoerfahrung leben, haben hier immer ihre Heimat gefunden. Wo man wirklich auch eine Konzentration beim Gucken braucht. Wer guckt denn heute noch konzentriert Fernsehen? Da wird gezappt, da wird aufs Telefon geguckt, da wird die Waschmaschine angestellt. Da geht man zum Kühlschrank oder auf Toilette… Kino ist ja heute eigentlich der einzige Ort, wo wirklich noch konzentriert und gemeinsam geguckt wird.

Hier wird immer konzentriert geguckt: Das Abaton im Hamburger Universitätsviertel.
Publikumsgespräche auch über Skype
Es gibt viele Arthaus-Kinos, die Publikumsgespräche anbieten. Dennoch habe ich den Eindruck, dass das Publikumsgespräch im Abaton einen ganz besonderen Stellenwert hat?
Das kann man sicherlich sagen, zumal das Abaton mit weitem Abstand die meisten Publikumsgespräche in der Republik bietet. Wir haben letztes Jahr (2015) 200 Publikumsgespräche geführt. Das macht kein anderes Kino, geschweige denn ein privatwirtschaftliches Kino, was keine Subventionen kriegt. Ich denke, das ist eine ganz besondere Kultur, die wir hier haben und pflegen. Es ist auch so, dass wir eine starke Verbindung zu Hamburger oder norddeutschen Regisseuren haben. Bei Schulvorstellungen gehen wir oft so weit, dass wir, wenn der Regisseur z.B. in Berlin sitzt, den Lehrern und Schülern anbieten, Skype-Gespräche zu führen. Denn der Aufwand für eine Reise zu einer Schulvorstellung wäre natürlich zu groß; aber die Schüler möchten nun mal gerne mit dem Regisseur reden.
Ich habe den Eindruck, dass je kleiner die Filme bzw. ihre Werbebudgets sind, desto mehr hängt der Erfolg vom Einsatz der Kinobetreiber ab, die in oft mühsamer Kleinarbeit dafür sorgen, dass auch kleine Filme ihr Publikum finden.
Das stimmt. Aber hier gilt ganz besonders: Wichtig sind Regisseur-Besuche! Wir laden zu diesen Veranstaltungen auch alle wichtigen Multiplikatoren und Kommunikatoren der Stadt ein. Der Verleih hat den Ball (Film) ins Feld gespielt, und wir versuchen ihn ins Tor zu schießen.
Es fehlt etwas Schräges
Hat sich die Altersstruktur in den letzten 10-15 Jahren im Abaton verändert?
Die Altersstruktur wird bei uns über die Filme gemacht. Was wir haben meines Erachtens in letzter Zeit verhältnismäßig wenig neue Regisseure entdeckt, die für ein jüngeres Publikum Kultcharakter haben. Man muss ja nur einmal überlegen: Der letzte britische Kultfilm ist „Train Spotting“ (1997) gewesen. Das ist schon verdammt lange her. Wenn wir ans US-Indie-Kino denken: Wann gab es da den letzten Kultfilm? Also die Coens sind noch ein bisschen Kult. Dann kann man vielleicht Alejandro González Iñárritu („The Revenant“, „Birdman“), nennen. Diese Filme haben im Abaton auch ein junges Publikum gefunden. Aber es fehlt etwas Schräges, Junges, Britisches auch Französisches. Früher gab es Kassovitz, der damals mit „La haine – Hass“ kam, ein sehr starker, immer noch aktueller Film. Solche Werke fehlen einfach. Ich bin sehr froh und stolz, dass das Abaton das erfolgreichste deutsche Kino mit Sebastian Schippers „Victoria“ war und ist. Das ist für mich junges deutsches Kino. Vor drei Jahren war „Oh, Boy“ von Jan Ole Gerster hier auch sehr erfolgreich. Das brauchen wir. Aber Vergleichbares wird weltweit leider nicht sonderlich viel produziert. Das würde ich mir mehr wünschen. Dann hätten wir auch ein größeres junges Publikum hier. Aber da wir sehr konsequent amerikanische und englische Filme nur in OmU-Fassung zeigen, ziehen wir durchaus auch junges Publikum an. Und z.B. bei „Thinks Street“ – das ist jetzt kein ganz junger Film, keine ganz neue Entdeckung – aber es ist immerhin der dritte Film von John Carney, der lief im Abaton mit Abstand am erfolgreichsten in der Deutschland.

Um im Café vor dem Abaton zu sitzen hat Matthias Elwardt nur wenig Zeit – zum Interview schon.
Der einzige kulturelle Ort ohne Hemmschwelle
Berechnungen der Filmförderungsanstalt zeigen, dass der Deutsche Film in den letzten Jahren stärker geworden ist. Wenn es aber um das positive (oder negative) Fazit eines Kinojahres geht, ist das immer abhängig von zwei, drei Filmen. Gibt es zwei große Kinoerfolge, dann ist der Deutsche Film angeblich „in“. Kannst Du das bestätigen?
Kino ist für mein Gefühl immer in. Die Leute wollen sich treffen. Die wollen Sachen gemeinsam sehen und erleben. Facebook und Social Media machen die Leute nicht glücklich. Wir wollen jemanden neben uns haben. Wir wollen nicht allein, anonym vor einem Computer sitzen. Wir wollen den Austausch, wir wollen den Mitmenschen spüren, treffen, wollen direkt kommunizieren. Und Kino ist der einzige kulturelle Ort, wo das ohne Hemmschwelle möglich ist. Bei Theater, Oper oder Ausstellung gibt es immer eine gewisse Hemmschwelle. Außerdem braucht man ein gewisses Vorwissen oder eine Affinität dazu. Das alles ist beim Kino nicht nötig. Wenn der Film gut ist, kann mich jedes Werk nach zehn Minuten mitnehmen, und ich reise nach Russland, nach China oder wo auch immer die Reise hingeht – z.B. auf den Berg Athos. Das ist ja das Besondere. Aber es müssen eben auch Filme sein, die die Leute sehen wollen. Ich weiß meist schon beim ersten Sichten, ob der Film die Leute berühren wird oder nicht. Es ist eine hohe Kunst, Filme zu machen, die die Leute berühren, die sie mitnehmen, die eine empathische, emotionale Kraft haben. Die Leute wollen nicht die zehnte Marvel Verfilmung sehen. Die wollen originäre Stoffe sehen. Letztes Jahr war das Reload von „Star Wars“ halbwegs originell. Bei James Bond war schon wieder ein bisschen die Luft raus. „Fack ju Göhte 2“ fanden die Leute frisch.
Wir brauchen frischen Wind
Das sind aber Mainstream-Produktionen.
Ja, ich rede hier vom Mainstream. Im Arthaus-Bereich waren ganz schöne Sachen dabei. Aber grundsätzlich brauchen wir immer mal wieder frischen Wind. Ich bin für den deutschen Arthaus-Film guter Dinge, weil bald sehr interessante Filme kommen. Fatih Akins „tschick“ z.B. oder Andreas Dresen, der den klassischen Jugend- bzw. Kinderroman „Tim Thaler“ verfilmt hat, der noch nie im Kino war. Da bin ich sehr drauf gespannt. Zumal ich finde, dass Andreas noch nie einen uninteressanten oder misslungenen Film gemacht hat. Und es gibt mit Carla Juri in der Hauptrolle ein sehr interessantes Portrait der Malerin Paula Becker, „Paula – Mein Leben soll ein Fest sein“ (Regie: Christian Schwochow), das auch die Künstlerkolonie Worpswede beschreibt. Also das sind für mich so drei Sachen, auf die ich sehr gespannt bin. Ach so, jetzt hätte ich fast „Toni Erdmann“ vergessen. Grandios! Wobei der Film auch eine Kinoerfahrung ist. Den muss man im Kino sehen. Das erzählt Maren Ade brillant.
Maren Ade ist aber keine Neuentdeckung?
Das stimmt. Maren Ade ist bereits mit „Alle anderen“ auf der Berlinale entdeckt worden. Seit dem hat sie zwei Kinder bekommen. Aber bei ihr bin ich grundsätzlich voller Hoffnung, dass da dann viel passiert. Sie ist ein Beispiel für eine echte Kinoautorin. Das kann im Fernsehen nicht funktionieren, zumal der Film mit 160 Minuten auch den Rahmen sprengt. Aber es braucht auch die Zeit, bis man das Vater-Tochter-Verhältnis kennenlernt, mit den ganzen Besonderheiten und schrägen Szenen. Und auf einmal denkt man: „Das gibt es doch nicht. Das habe ich im Kino so noch nie gesehen“. Und es ist kein einziger Spezial-Effekt im Film.
„Whow, habe was Tolles gesehen und dabei an Dich gedacht!“
Du hast vorhin Matthieu Kassovitz stellvertretend für das französische Autorenkino genannt. Ich sehe aktuell eher eine Welle weichgespülter Werke aus Frankreich. Biedere Unterhaltungsfilme mit ein bisschen sozialem Hintergrund. Ist das etwas, was sich durchsetzt?
Eines muss man wissen: In den letzten zehn Jahren hat sich weltweit die Filmproduktion verdoppelt. Es ist unglaublich viel Geld da, privates und öffentliches. Und die Digitalisierung macht das Filmemachen viel einfacher und preiswerter. Also das Angebot ist viel größer. Es hat aber leider keine kreative Explosion gegeben. Man darf nicht vergessen: Christopher Nolan hat mit einem 16mm-Film angefangen, „The Following“. Die Wachowsky Brüder haben mit „Bound“, einem lesbischen Thriller angefangen, klein und preiswert. Und Tarantinos erster Film war „Reservoir Dogs“, ein Kammerspiel. All das ist ja schon lange her. Eigentlich bräuchten wir jedes Jahr zwei, drei neue Talente, über die wir sagen können: „Ja, die haben eine neue Qualität, und da entwickelt sich was!“ Aber das sehe ich wenig, und das ist schade. Ich weiß nicht, warum die Leute nicht wirklich was zu erzählen haben. Es muss für mich auch nicht das große Sozialdrama sein. Ich freue mich, wenn ich eine tolle Liebesgeschichte sehe. Eine, wo ich sage: „Whow!“ Die einfach frisch erzählt ist. Wo man mit wildem Herzklopfen aus dem Kino kommt und seine Frau, Freundin, Geliebte anrufen möchte: „Oh, whow! Habe was Tolles gesehen und habe an dich gedacht!“ Ich weiß nicht, woran es liegt, dass das fehlt.
Modell Wunschkino modifiziert
Hast Du Pläne, das Abaton zu verändern?
Ich arbeite ja nach dem Intendantenprinzip. Ich kann nur auswählen; aber ich kann keine Filme machen. Und natürlich gucke ich, was weltweit heraus kommt. Und die Verdoppelung der Produktion ist natürlich ein Problem. Eigentlich bräuchte man einen Filmverleih. Ganz selten bringe ich auch mal einen Film heraus, der keinen Filmverleih hat. Aber der Aufwand von der Rechteklärung über Werbekampagne bis zur Pressearbeit ist eigentlich zu groß. Beim Kinomachen schaue ich natürlich über den Tellerrand: Was machen andere? Es gibt Modelle wie Wunschkino, die nicht so richtig funktioniert haben. Dennoch haben wir ein Modell gefunden, das einigermaßen läuft: Wir sind sehr großzügig gegenüber Wünschen des Publikums. Das ist der Vorteil, den das digitale Kino möglich macht. Das beginnt mit Kindergeburtstagen. Wir haben immer sechs bis acht Kinderfilme, die man sich bei uns wünschen kann. Dazu brauchen wir nur einen kurzen Vorlauf; uns reichen zehn Tage. Und dann wird der Wunschfilm am Geburtstag des Kindes gezeigt, als öffentliche Vorführung. Das wird sehr gut angenommen. Das finde ich auch wichtig, weil die Kinder so das Arthaus-Kino und europäische Kinderfilme kennenlernen. Es genügt, wenn eine Mutter anruft und sagt: „Mein Sohn lädt fünf Kinder ein und möchte gerne XY sehen…
Gilt das auch für andere Filme?
Und wir haben es mit einer Flut von Dokumentarfilmen zu tun. Manchmal gibt es spezielle Interessentengruppen, die sich dazu einfinden, z.B. wenn es um Jugend- Psychiatrie geht. Oder wir haben „Parchim International“ hier gehabt, die eigenwillige Geschichte dieses Flughafens in Ost-Deutschland, den ein chinesischer Investor gekauft hat. Es gibt in Hamburg erstaunlich viele Firmen, die mit Flughäfen zu tun haben: Von der Lufthansa über Anwaltskanzleien usw. Und die sagen: „Wir wollen das mit unseren Mitarbeitern angucken!“ Dann sage ich: „Okay, ab zehn Personen kriegt ihr dafür eine 18.00 Uhr-Vorstellung. Die ist dann immer öffentlich, aber machen eine genau Wunschzeit aus.
Cineastisches Filmquiz
Ihr bietet auch ein ziemlich erfolgreiches Filmquiz an.
Richtig. Ich habe vor sechs Jahren in Berlin das Filmquiz von Rex Kramer im SO 36 entdeckt. Also in dem legendären Punk-Konzertladen. Dort stellen sie zum Quiz immer Bierzeltmobiliar auf. Das hat mir sehr gut gefallen. Und ich habe Rex eingeladen, eine Hamburger Variante des Quiz´ zu machen, den ich mit ihm zusammen moderiere. Dazu werden Filmausschnitte gezeigt und Fragen zu den Filmen gestellt. Mit einer Besonderheit, die es nur im Abaton gibt: Wir haben immer eine Stargast da. Also einen Schauspieler, Regisseur, Kameramann, Cutter… Der hat einen eigenen Frageblock. Also wir zeigen Ausschnitte zu seinen Filmen. Und am Ende, wenn der Zettel eingesammelt ist, antwortet der Gast im Gespräch auf die Fragen. Und für alle anderen Fragen gibt es am Ende einen Lösungsfilm. Zu dem Quiz waren schon alle möglichen Gäste hier: Peter Lohmeier, Hark Bohm, Nina Petri, Maria Schrader usw. Alle waren schon da und hatten ihren eigenen Filmblock. Das macht allen sehr viel Spaß, und es kommt ein richtiges Stammpublikum alle zwei Monate dafür hierher. Das sind echte Cineasten. Schon die Art, wie Rex Kramer die Ausschnitte präsentiert, ist wunderbar. Der zeigt z.B. Ausschnitte „Las Vegas im Film“. Zehn Ausschnitte von Szenen, die in Las Vegas spielen. Und die muss man dann zuordnen. Zur Orientierung bekommt man Jahreszahlen und muss dann Regisseure und Filme zuordnen. Da ist dann „Ocean´s Eleven“ oder „Mars attacks“ dabei, „Leaving Las Vegas“ und natürlich auch „Hang over“. Außerdem gab es eine Zusatzfrage: „Welcher von den zehn Filmen ist nicht in Las Vegas gedreht worden? Das sieht man auch, ist allerdings schon schwieriger zu erkennen. Das war dann „One from the heart“ von Francis Ford Copolla, der sein Las Vegas im Studio gebaut hatte. Also das Filmquiz macht allen Beteiligten viel Spaß.
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