Veit Helmer – „Vom Lokführer, der die Liebe suchte“

Ab 7. März im Kino:

Das Schweigen des Regisseurs

Veit Helmer, 50, hat nichts mit den entschleunigten Filmen der Berliner Schule zu tun, nichts mit den Regisseuren des Mumblecore-Kinos, die auf Improvisation setzen, und schon gar nicht mit den deutschen Filmemachern, die sich bemühen, Mainstream-Kassenknüller zu produzieren. Er ist einer der ungewöhnlichsten deutschen Autorenfilmer – der große Schweigsame unter ihnen. Beziehungsweise nicht er ist schweigsam, sondern seine Protagonisten. Völlig allein ist er dabei nicht: Wim Wenders drehte 1995 eine Stummfilm-Hommage an „Die Brüder Skladanowsky“, Aki Kaurismäki adaptierte den Roman „Juha“ von Juhani Aho 1999 und Michel Hazanavicius gewann mit „The Artist“ 2012 gar den Oscar. Gemein ist diesen Filmen jedoch, dass die Regisseure ihre Stummfilme eher als Ausflug in eine alte Kunstform sahen. Anders verhält es sich mit Veit Helmer. Der deutsche Filmemacher macht zwar keine klassischen Stummfilme, arbeitet aber oft fast ohne Dialoge. So 1999 bei seinem Spielfilmdebüt, der Phantasie-Abenteuerkomödie „Tuvalu“, 2007 bei der poetisch-ironischen Liebesgeschichte „Absurdistan“ oder in seinem neuesten Werk, „Vom Lokführer, der die Liebe suchte“. Ohne Dialoge, ohne Schrifttafeln, aber mit einer hoch künstlerischen Tonspur, bildgewaltig, poetisch und burlesk.

Inhalt: Jeden Tag fährt Zugführer Nurlan (Predrag Miki Manojlovic) mit seinem Zug durch die Vorstädte der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Diese sind so dicht besiedelt und bebaut, dass die Schienen durch die Wohnungen der Bewohner zu führen scheinen. So kann Nurlan die Anwohner der Vorstädte in ihrem Alltag beobachten. Doch die Bauweise bringt auch Gefahren mit sich. Damit niemandem etwas passiert, erklingt zwar bei der Zugdurchfahrt eine Pfeife, aber trotzdem muss Nurlan am Abend oft Habseligkeiten der Bewohner von seiner Lok „pflücken“. An seinem letzten Arbeitstag ist darunter ein schöner BH, den er unbedingt der Besitzerin zurückgeben will…

Der Lokführer (Miki Manojlovic) arbeitet seinen Nachfolger (Denis Lavant“) ein. Foto: Neue Visionen Filmverleih

„Wir nehmen keine Studenten aus dem Ausland“

 Bernd Sobolla: Veit, bevor wir zu „Vom Lokführer, der die Liebe suchte“ kommen, würde mich interessieren, woher dein Interesse für Osteuropa bzw. die ehemaligen Sowjetrepubliken kommt? Viele deiner Filme („Absurdistan“, „Baikonur“ und nun „Vom Lokführer, der die Liebe suchte“) spielen dort oder haben Bezüge zu den Ereignissen dort („Tor zum Himmel“).

Veit Helmer: Ich bin in West-Deutschland aufgewachsen, bin als typischer Bundeswehrflüchtling mit 17 nach West-Berlin gekommen, um nicht zur Bundeswehr zu gehen und wollte Film studieren. Aber die dffb hatte ein Mindestalter von 21 Jahren. Und dann dachte ich: „Mh, ich fahre doch immer mit dem Interzonenzug in Griebnitzsee (Potsdam-Babelsberg) vorbei, bewerbe ich mich doch einfach an der Hochschule für Fernsehen und Film, Konrad Wolf. Dann steige ich da aus, laufe rüber und fahre abends wieder nach Hause…“ Also habe ich Bewerbungen geschrieben – und immer abschlägige Antworten bekommen. Da kamen Briefe vom Ministerium für Kultur, die enthielten die komischsten Argumentationen. Genauer gesagt hieß das damals Büro für auswärtige Zusammenarbeit des Ministeriums für Kultur der DDR. Die schrieben u.a.: „Wir nehmen keine Studenten aus dem Ausland.“ Das stimmte aber nicht. Ich war schon da und hatte gesehen, dass es ausländische Studenten gab. Da haben sie gesagt: „Ja, aber das sind alles Studenten aus sozialistischen Brüderländern.“ Habe ich gesagt: „Das stimmt nicht, die kommen auch aus anderen Ländern“. „Ja, aber die sind blockfrei“, war die Antwort. Diese Kommunikation ging über Jahre. Und irgendwann kam ein Brief: „Wir freuen uns, Ihnen mitzuteilen, dass Sie einen Studienplatz an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch haben, am Regieinstitut in Berlin in der Belforter Straße.“

Veit Helmer

Regisseur Veit Helmer gehört zu den ungewöhnlichsten deutschen Autorenfilmern.

Ich war total überrascht und perplex, denn ich hatte mich ja gar nicht für Theaterregie beworben. Aber die Vorstellung, ein Jahr in der DDR zu verbringen, war für mich zauberhaft. Das war die größte Reise, die ich in meinem Leben je angetreten bin. Ich war vorher schon in Japan, in Amerika. Aber mit der S-Bahn vom Bahnhof Zoo in die Friedrichstraße und dort mit einem gepackten Koffer in ein neues Land zu gehen, war vollkommen unbekannt für mich. Natürlich war ich schon mal auf Tagesbesuch in Ost-Berlin. Aber alles war neu für mich. Schon der erste Kaufhallenbesuch in Ahrensfelde, wo das Ministerium für Kultur ihre Gäste unterbrachte, war ein total abstruses Erlebnis. Als ich dort nach zwei Tüten fragte, drehten sich in diesem Moment alle um, und die Frau, die mich betreute, schlug die Hände über den Kopf zusammen: „Haben Sie keinen Beutel dabei?“ Ich hatte keinen Beutel dabei… Also es gab Verwicklungen, es war wirklich sehr spannend, und ich lernte aber auch viel. Ich würde immer noch sagen, dass die Regie-Ausbildung an der Hochschule Ernst Busch für mich prägend war. Allein was mein Verständnis, mit Schauspielern zusammenzuarbeiten, betrifft. Dem räume ich ganz hohe Priorität ein. Deswegen habe ich vielleicht auch meinen Dokumentarfilm über Casting gedreht („Behind the Couch – Casting in Hollywood“). Ich denke, die Wahl der richtigen Schauspieler ist die essentielle Entscheidung bei der Herstellung eines Films. Mein DDR-Aufenthalt hörte nach einem halben Jahr schon wieder auf, weil es keine DDR mehr gab. Die Mauer fiel, und ich bekam einen Studienplatz an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Dennoch war meine Neugier für Osteuropa und dann später auch Zentralasien geweckt, so dass ich meinen ersten Spielfilm, „Tuvalu“, dann in Bulgarien gedreht habe.

„…dann werden sie vom Zug überfahren.“

Warum hast Du „Vom Lokführer, der die Liebe sucht“  in Aserbaidschan gedreht? Oder ist das überhaupt Aserbaidschan? Es wirkt irgendwie wie eine Märchenwelt?

Aserbaidschan kenne ich von meinem Film „Absurdistan“. Der basierte auf einer Zeitungsnotiz von einem türkischen Dorf, wo die Frauen einen Streik gemacht hatten und gesagt hatten: „So lange die Männer nicht das Wasserrohr reparieren, gibt es keinen Sex mehr“. Das war für mich als Filmemacher natürlich ein Filmstoff.  Also flog ich in die Türkei und besuchte das Dorf. Und ich war sehr enttäuscht, weil es sehr grün war. In meiner Imagination hatte ich ein karges Wüstendorf gesehen. Also musste ich ein passendes Dorf finden. Das gelang mir weder in der Türkei, noch in Marokko, nicht in Italien, nicht in Armenien, nicht in Usbekistan oder Georgien.  Nach zwei Jahren kam ich nach Lahij in Aserbaidschan und wurde ein Fan dieses Landes. Der Dreh war wunderschön, und ich wollte immer wieder dort hinfahren und drehen. Und dann sah ich im Internet einen kurzen Videobeitrag über das Viertel Shanghai in Baku. Shanghai wird es deswegen genannt, weil die Leute denken, dass es so in China aussieht. Was natürlich total falsch ist. Auf jeden Fall ist Shanghai ein ganz besonderes Viertel. Dort fahren die Züge in einem Abstand von 20 cm an den Häusern vorbei. Also nicht so wie in den Videos, die man aus Asien kennt, wo Obstmärkte auf den Gleisen stehen und die Leute alles schnell abbauen können. Wenn in Shanghai, also in Baku, die Menschen nicht innerhalb weniger Sekunden in die Häuser rennen, werden sie vom Zug überfahren. Das ist natürlich etwas, was für einen Regisseur faszinierend ist. Da habe ich sofort Geschichten gesehen und habe auch erkannt, dass das etwas ist, was ohne Dialog erzählt werden kann. Und das wollte ich schon seit Jahren machen. Einen Film drehen, den ich wie bei meinem Debüt „Tuvalu“ nur in Bildern erzähle.

Nicht nur die Weichenstellerin (Chulpan Khamatova) beeinflusst das Leben des Lokführers. Foto: Neue Visionen Filmverleih

Hat „Vom Lokführer, der die Liebe suchte“ eine reale Geschichte als Vorbild, einen Zeitungsartikel oder Ähnliches?

Außer das, was ich gerade beschrieben habe, ist alles Imagination. Ich habe nicht wie bei „Absurdistan“, wo ich ein Land erfunden habe, jetzt beim „Lokführer“ verheimlicht, dass es Aserbaidschan ist. Aber ich stelle es auch nicht aus. Ich würde auch nicht behaupten, dass ich als deutscher Regisseur einen Film machen kann, der über Befindlichkeiten aus dem Land erzählt. Sondern für mich ist es eine universelle Geschichte, die irgendwo im post-sowjetisch, süd-ost-europäischen / zentral-asiatischen Umfeld angesiedelt ist, so ein bisschen wie 1000 und eine Nacht. Alles kommt aus meinem Kopf. Wir haben ja dann auch die Aufnahmen in Georgien beendet, einem Land, das ganz anders aussieht, aber zum Glück die gleichen Züge hat, die gleichen Lokomotiven, die gleichen Eisenbahnwagons. Als wir in Aserbaidschan nicht mehr drehen durften, konnten wir den Film trotzdem mit Hilfe der georgischen Regierung fertigstellen.

„Der BH ist auch der Katalysator für die Suche nach Familie“

Der Film sollte ursprünglich einfach „Bra“ oder BH heißen?

Ich habe den Film mit dem universellen Titel „The Bra“ hergestellt. Und so ist er auch im Ausland präsentiert worden. Er hatte Weltpremiere in Tokyo, hat jetzt schon mehrere Preise gewonnen. Mein deutscher Verleiher hat diesen sehr poetischen Titel gewählt, der schon ein wenig über den Film verrät. Da ich sehr viel selber mache  -Drehbuch schreiben, produzieren, Regie führen – sind das Dinge, die ich den Verleih entscheiden lasse.

Paz Vega

Die Anwohnerinnen (hier Paz Vega) hängen ihre Wäsche direkt an der Eisenbahnstrecke auf. Oft bleibt etwas hängern… Foto: Neue Visionen Filmverleih.

Sucht der Lokführer überhaupt die Liebe? Er wirkt ziemlich zufrieden mit sich und der Welt?

Der Lokomotivführer ist ein fast schon preußischer, pflichtbewusster Mensch, der sogar mehr macht, als sein Arbeitgeber verlangt. Abends „pflückt“ er die Dinge, die während der Fahrt an seiner Lokomotive hängengeblieben sind auf, und bringt sie den Besitzern zurück. Und wenn er weiter arbeiten würde, würde er auch so weiter glücklich sein. Das Problem ist, dass er in Rente geht. Und in seinem Dorf, wo er wohnt, sitzen alle Opas am Fluss und angelnd mit ihren Enkelkindern. Dies Glück ist ihm aber nicht beschieden, weil er keine Familie hat. Und so fängt es an, in seinem Kopf zu rumoren. Und vielleicht ist der BH auch der Katalysator für diese Suche nach Familie.

Denis Lavant auf der Suche nach der perfekten Musik

Ist der Film für dich auch ein Ausdruck für eine Sehnsucht nach einer entschleunigten Zeit?

Obwohl der Film in einer ganz anderen Welt spielt, ist da vieles von mir drin und von meinen Wünschen und Sehnsüchten. Aber das versuche ich gar nicht zu analysieren oder zu interpretieren. Es ist eine sehr analoge Welt, eine Welt mit Maschinen. Das Mechanische ist etwas, was mir in allen Filmen sehr eigen ist. Hier hatte ich auch wieder Dennis Lavant als Schauspieler zur Seite, mit dem ich eine Geschichte entwickelte, die inspiriert ist von einem anderen Drehort, nämlich von einem Wagon, in dem lauter alte Maschinen waren. Und wir überlegten uns, dass man mit diesen Maschinen Musik machen könnte. Dennis ist eine Art Seitencharakter, so ein spin-off, der auf der Suche ist nach dem perfekten Musikstück und erst am Ende mit der Lokomotive zu diesem perfekten Tonstück kommt.

Über die Faulheit der Autoren

Warum war es dir so wichtig, diesen Film ohne Dialoge zu machen? Man hätte einige wenige haben können, z.B. bei der Verabschiedung des Lokführers?

Der Lokführer (Miki Manojlovic) mit dem BH in der Hand. Foto: Neue Visionen Filmverleih

Salopp gesagt: Dialoge sind für mich pure Faulheit der Autoren.  Kino ist für mich eine Sprache der Bilder. Es ist eine irrsinnig komplizierte Aufgabe und eine anstrengende Arbeit, Bilder zu finden, für eine doch komplexe Geschichte. Aber wenn man die Bilder gefunden hat, ist es etwas sehr Beglückendes. Und ich hoffe, dass es quasi eine spirituelle Erfahrung ist, die man als Zuschauer hat. Es ist nicht etwas, was die Hausfrau Zuhause beim Bügeln angucken kann. Sondern es ist eine Reise, auf die man sich einlassen muss. Ich fordere den Zuschauer. Der Zuschauer, der nicht mit voller Aufmerksamkeit den Film schaut, wird ihn gar nicht verstehen. Es ist kein Film, wo die Zuschauer nebenbei ihre Whatsapp Nachrichten checken können. Hitchcock hat gesagt, alles, was man mit Dialogen sagt, ist für das Kino verloren. Oder anders: Dialoge sind abgefilmtes Theater. Das würde  ich eher dem Hörspiel überlassen, wo es ja seine schönste Form hat. Obwohl ich auch sagen würde, dass Geräusche eine wichtige Ebene sind. Ich entfessele nahezu die Tonspur. Dialoge hingegen schmieren sie zu. Dialoge erfordern die Reduktion aller anderen Tonalitäten, aller Geräusche, damit die Dialoge verständlich sind. Dialoge verlangen nach Sprachverständlichkeit. Und alles andere ist den Dialogen unterzuordnen. Die Absenz von Dialogen ist ein großer Raum, ein wunderschöner Raum, den ich als Regisseur füllen darf: mit Geräuschen vom Drehort, mit Geräuschen aus dem Archiv, mit Geräuschen, die mir Karsten Richter zur Verfügung stellt. Das ist Deutschlands wundervollster Geräuschemacher, der sich zwei Wochen lang jedes Bild im Film mehrmals anguckt hat und für jedes visuelles Ereignis die verschiedensten Töne ausprobiert hat. Das sind Töne, die wir in Archiven suchen. Das sind die Musiken, die wir lizensieren, alte Lieder aus Aserbaidschan, das sind Musiken, die Cyril Morin, mein Komponist, mit einem Orchester aufgenommen hat. Es sind aber auch Sprachaufnahmen, also adr, additional dialogue recordings, die ich mit meinen Schauspielern mache. Da geht es aber nicht um Worte, sondern alle Schauspieler sind noch Mal ins Studio gekommen, damit ich mit ihnen die Atmer aufnehme. Denn Atmer, auch wenn wir sie gar nicht bewusst wahrnehmen, transportieren Emotionen. Ich kann traurig atmen, ich kann fröhlich atmen, ich kann aufgeregt atmen, je nachdem, welche Emotion, was bei mir gerade passiert, das verändert mein Atmen. Und da wir beim Drehen die Mikrophone leider sehr weit weg haben von den Mündern, und das Atmen in den meisten Filmen gar nicht zu hören ist, habe ich die Schauspieler alle eingeladen, noch Mal ins Studio zu kommen, die Szenen nachzuatmen.

„Erste wenn sich Menschen nahe sind, können sie Stille ertragen.“

Wie führst Du die Schauspieler für den Stummfilm? Muss man da noch präziser arbeiten? Ist das einfacher, schwieriger oder einfach nur anders?

Ich hatte viele Schauspieler zum Casting eingeladen, die mit dieser Art von Filmemachen leider nicht klar gekommen sind. Das war für die Schauspieler enttäuschend und für mich. Aber es gab Schauspieler, die diese Art entfesselt hat. Die gesagt haben, sie können jetzt ihren Körper einsetzen. Ich wollte gar nicht großes gestisches oder mimisches Spiel haben. Meine Arbeit war oft zu sagen: „Weniger!“ Denn ich sehe oft in kleinsten Blicken, was der Schauspieler fühlt oder denkt. Und alles, was übertrieben ist – und da muss ich sagen, dass bei „Tuvalu“ noch sehr viel übertrieben war – habe ich versucht noch reduzierte und minimaler auszuarbeiten, vielleicht schon fast naturalistischer. Das klingt nach einem Widerspruch in sich, weil in der Welt meistens geredet wird. Obwohl ich gerne anführe, dass wir die intensivsten Moment, die wir in der Zwischenmenschlichkeit haben, ja die Momente sind, wo wir nicht reden. Also beim ersten Date wird immer geredet, und Stille wird als etwas total Peinliches empfunden. Sodass man aus Angst vor dieser peinlichen Stille permanent redet. Erst wenn Menschen sich nahe sind, ertragen sie Stille, können sie sich gemeinsam anschauen. Erst dann, wenn sich zwei Menschen angucken ohne zu reden und sich wohl fühlen, entsteht Intimität. Letztendlich hoffe ich, dass dieser Film ein intimer Film ist. Casting ist etwas ganz Wichtiges bei diesem Film, weil nicht alle Schauspieler ohne Dialog arbeiten können. Wenn ich einen Schauspieler gefunden habe, und ich war in vielen Ländern und nicht viele Schauspieler waren in der Lage, diese Art von Schauspiel zu leisten, dann vertraue ich den Schauspielern. Ich bin nicht der diktatorische Regisseur, der den Schauspielern am Drehort sagt, was sie machen sollen. Sondern ich gebe ihnen die Chance, mir das zu geben, was sie im Kopf haben, weil ich die Schauspieler als Anwälte ihrer Rollen sehe. Oft überzeugen sie mich mit dem, was sie machen. Das ist dann viel besser als das, was ich im Kopf hatte. Und ich kann mich gar nicht mehr erinnern, was für eine Vorstellung ich vom Lokführer hatte, bevor ich mich entschied, dass Miki Majolovicz ihn spielt. Seitdem ist der Lokomotivführer für mich immer mit der Person von Miki Manojlovic verbunden.

Traumhafte Farben, weiche Konturen

Die Menschen, die wir im Film sehen, wirken alle zufrieden. Ist das deine künstlerische Freiheit, dir deine visuelle Welt zu erschaffen? Oder ist das der Menschenschlag derer, die in Aserbaidschan leben?

Das ist das zweite Mal, dass Du von Zufriedenheit sprichst. Schon den Lokführer, den ich auch als unglücklich, einsamen Menschen empfinde, hast Du so beschrieben. Ich empfinde viele der Frauen als eingesperrt, die Träume haben, wie z.B. die Tänzerin, die nun Mutter geworden ist. Maja Morgenstern ist für mich auch eine Frau, die erst glücklich und zufrieden ist, als sie diesen BH sieht. Die Ehemänner sind nun gar nicht glücklich. Und der Waisenjunge, der die Anwohner vor dem Zug warnt, wohnt in einer Hundehütte…

Ein Balanceakt auf dem Gleis – zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit. Foto: Neue Visionen Filmverleih

Du hast Recht. Aber vielleicht bin ich abgelenkt durch das Farbenspiel. Ich finde, die Farben, die Du benutzt, sind so weich, so märchenhaft, dass die Unannehmlichkeiten irgendwie verklärt werden.

Kommen wir auf die Farben zu sprechen. Bei der Vorbereitung haben wir im Kinostudio in Aserbaidschan alte russische Lomo-Optiken gefunden, die eine ganz eigene Ästhetik mit sich bringen. Die haben nicht diesen Schärfeeindruck, den Kinooptiken oder Fernsehoptiken heute haben, wo man immer alles klar erkennt. Sondern sie sind so leicht traumhaft. Und wir haben versucht, das in der Postproduktion noch zu unterstützen und die Farben etwas technicolorhafter wie in den 60er, 70er Jahren einzufärben, sodass der Film vielleicht ein wenig aus der Zeit gefallen ist.

Genau das meine ich. Das Märchenhafte nimmt der Realität die Härte.

Wenn ich nur glückliche Menschen haben würde, wäre das langweilig. Aber ich bin kein Regisseur, der wirklich Gewalt zeigen möchte. Letztendlich sind Filme ja auch ein Bestandteil unserer Realität. Die Welt ist ja schon schrecklich genug. Das überlasse ich den Dokumentarfilmern. Also ich mag gerne eine Reise in ein schönes Land. So etwas versuche ich z.B. mit dem Szenenbild zu verstärken. Es ist etwas Magisches, ein bisschen wie eine Schatzkiste, die wir gemeinsam entdecken.

Unermüdlich sucht der Lokführer nach der Besitzerin des entscheidenden BHs und mutiert dabei zum BH-Verkäufer.

Andrei Tarkowski hat einmal gesagt, es gäbe im Wesentlichen zwei Arten von Filmemachern. Die erste Gruppe versuche die Realität so gut wie möglich zu kopieren, und die zweite schaffe sich ihre eigene Welt. Und für mich ist das ein typisches Bespiel für die zweite Gruppe.

Für mich ist es nicht so reizvoll, in Berlin einen Film zu drehen, weil ich das Gefühl habe, an jeder Straßenecke haben schon fünf Filmteams ihre Kameras aufgestellt und ich kann gar nichts Neues anbieten. Wohingegen ich in Aserbaidschan das Gefühl habe: „Whow, das ist alles neu! Das ist noch nie gesehen worden!“ Das möchte ich mit den Zuschauern teilen.

„Wir haben eigentlich keine Kamera…“

Was war für Dich die wichtigste Erfahrung im Rahmen dieses Filmprojekts?

Ich war überrascht, dass ich selber gelassen war. Ich bin bei meinen vorherigen Filmen bei kleinen Problemen schon schnell an die Decke gesprungen. Und hier, obwohl die Polizei an die Tür klopfte, obwohl wir Teammitglieder hatten, die uns über Nacht aus Angst vor Polizeieinsätzen verließen, obwohl mein Produzent in Baku ausstieg und die Kamera mitnahm und wir plötzlich ohne Equipment dastanden, war ich irgendwie gelassen. Und  das war wichtig, weil sonst wohl der ganze Dreh zusammengebrochen wäre. Also der schlimmste Tag war, als Paz Vega kam, und wir keine Kamera hatten. Und keiner in Aserbaidschan wollte uns eine Kamera vermieten, weil alle Angst hatten, das Equipment würde konfisziert werden. Über meinen Kameraassistenten sind wir an eine Kamera gekommen, die eigentlich auf einem anderen Dreh eingesetzt wurde. Ein Freund des Assistenten hat uns diese Kamera sozusagen heimlich vermietet, bevor das andere Team mittags anfing zu drehen. Ich habe dann Paz Vega (eine der Hauptdarstellerinnen) gesagt „Ja, es tut mir leid, aber wir müssen wegen des Lichts früh morgens drehen.“ Die hat sich zwar gewundert, weil wir dann drinnen drehten. Aber ich habe mich nicht getraut zu sagen: „Wir haben eigentlich keine Kamera“…

Interview: Berlin, Februar 2019