„Ein guter Magier setzt nicht nur auf eine Illusion“
Die Geschichte ist so phantastisch, dass sie fast irreal klingt: Am 7. August 1974 spannte der französische Hochseilartist Philippe Petit mit Helfern ein Drahtseil zwischen die beiden Türme des World Trade Centers in New York, dem damals höchsten Gebäude der Welt, und balancierte anschließend 44 Minuten ohne Absicherung darüber. Das Ganze in 417 Metern Höhe. 2007 drehte der Engländer James Marsh den Dokumentarfilm „Man on Wire“ über dieses Ereignis, der ein Jahr später mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Mit vielen Fotos, aber fast ohne Originalfilmaufnahmen, weil es davon kaum Material gibt. Zu dieser Zeit arbeitete US-Regisseur Robert Zemeckis bereits an einem Spielfilm über das Ereignis. Zemeckis gilt als Tüftler, der gern alles einsetzt, was die Filmtechnik zu bieten hat. Aber mehr noch interessieren ihn ungewöhnliche Stoffe. So begeisterte er das Publikum mit „Zurück in die Zukunft 1,2,3“, gewann den Oscar für „Forrest Gump“ und erfreute nicht nur Kinderherzen mit „Disney – Eine Weihnachtsgeschichte. „The Walk“ heißt sein Film über den Hochseilakt, den er mit Joseph Gordon-Lewitt („The dark knight rises“, „Lincoln“) in der Hauptrolle gedreht hat. Das Werk kommt am 21. Oktober in 3D-Fassung in die Kinos.

Am 7. August 1974 trat der französische Hochseilartist Philippe Petit auf das Drahtseil, das er zwischen die Zwillingstürme in New York gespannt hatte. (photo: Sony Pictures)
Bernd Sobolla: Mr. Zemeckis, sehen Sie Ihren Film al seine Art Homage an Philippe Petit und das World Trade Center?
Robert Zemeckis: Wir wussten natürlich, dass im Hintergrund zu Philippes Geschichte immer auch dieser tragische historische Moment des 11. September 2001 stand. Aber unabhängig davon schenkte Philippe sich und uns allen einen großartigen künstlerischen und poetischen Akt. Er vereinigte die beiden Türme quasi. Es sollte eine Art Liebesbrief an die Zwillingstürme und New York sein – ein subtiler. Man sollte sich nicht immer nur an die Tragödie erinnern. Jeder möchte auch die menschlichen Aspekte feiern, die ebenso zur Geschichte gehören. Und Philipps Akt gehört dazu.
Wie sind Sie an die „Wiederherstellung“ der Türme gegangen?
Es war ideal für uns, dass die Türme so ausgiebig fotografiert wurden. Wir hatten großartiges Referenzmaterial und wollten, dass die Türme exakt so aussehen, wie sie 1974 aussahen. Deshalb haben wir auch akribisch die Skyline um das World Trade Center herum recherchiert. Jedes Haus, das 1974 existierte, sieht man auch im Film.
Die Story ist so unglaublich, dass es schwer vorstellbar ist, warum es rund 40 Jahre dauerte, bis sich ein Filmemacher daran machte, sie fürs Kino umzusetzen.
Ehrlich gesagt, habe ich keine Antwort darauf. Aber nach meiner Erfahrung, werden Filme meist dann gedreht, wenn die Zeit reif ist für sie. Das gilt auch für „The Walk“, auch wenn die Entwicklungszeit zehn Jahre betragen hat. Dafür gab es einige wunderbare Fügungen: Zum einen fand ich Joseph Gordon-Lewitt, der Philippe spielt. Zum anderen hat sich die digitale Filmtechnik enorm entwickelt, so dass sie für uns nahezu ideal war. Ich hätte den Film auch zehn Jahr früher machen können, aber dann wäre der Arbeitsaufwand viel höher gewesen und der Film viel teurer geworden. Ich denke, es ist genau der richtige Zeitpunkt.
Technologie hat in Ihren Filmen immer einen großen Stellenwert. Wie beurteilen Sie die technische Entwicklung heute?
Wissen Sie, für mich ist das Kino immer eine technische Kunstform gewesen, und zwar vom ersten Tag ihrer Existenz an. Aber wenn es um visuelle Effekte geht, dann muss ich sagen, dass die Nahaufnahme mein Lieblingseffekt ist. Die gibt es so in keiner anderen Kunstform. Und sie ist auch nicht vergleichbar mit irgendetwas im realen Leben. Sie ist ein kraftvolles cineastisches Mittel, das wir einsetzen, um unsere Geschichten zu erzählen. Die gesamte Filmsprache basiert auf Technologie; Film ist immer eine Art hyper-reale Kunstform gewesen. Es kommt auf den Regisseur an, die Balance zwischen Realität und Überhöhung zu finden. Im Prinzip geht es darum, die Technik unsichtbar zu machen und zum Diener der emotionalen Geschichte.

Noch übt Phlippe Petit (Joseph Gordon-Lewitt) in Frankreich für den großen Auftritt in New York. (photo: Sony Pictures)
Haben Sie Ihre künstlerischen Träume umsetzen können?
Filme drehen ist immer ein Hochseilakt. Das kann man zwar auch für die anderen Künste sagen, aber beim Film hängt das „Seil“ besonders hoch, weil Filmemachen so teuer ist. Deshalb nehme ich die Werkzeuge, die sich mir anbieten, gern an. Bei „The Walk“ ist es so, dass mich die Umsetzung aller anderen Filme auf diesen Film vorbereitet hat. Ein guter Magier setzt nicht nur auf eine Illusion, er vereinigt mehrere Illusionen miteinander. Und genau das, habe ich auch getan. Ich habe alles eingesetzt, was ich zur Verfügung hatte.
Es heißt, dass Ihre 3-D-Fassung so überwältigend sei, dass sich Leute in den USA in der Vorstellung übergeben hätten.
Davon habe ich im Internet gelesen. Aber im Internet steht viel, und man sollte nicht alles glauben, was man liest.
Ich war erstaunt über die Figur Papa Rudy, die Ben Kingsley spielt. Warum machten Sie ihn zu einer Art Mentor für Philippe, der eigentlich eher ein Autodidakt war?
Philippe wusste nicht, wie er das Seil anbringen und sichern sollte. Die Szenen im Film sind kein Phantasieprodukt, sondern sie fanden wirklich statt. Er war es, der ihm riet, das Seil durch diagonale Führungen zu sichern und die Schwingungen zu minimieren.
Sie zeigen am Ende eine große Feier, bei der Philippe mit allen Beteiligten zusammensitzt. In Wirklichkeit, ließ er alle ewig warten und vergnügte sich mit einem Groopie stundenlang im Bett.
Das stimmt. Diese Feier hat es nie gegeben. Alle gingen nach dem Ereignis im Hass auseinander. Wenn Sie so wollen, zeigen wir an diesem Punkt anti-dramatische Überarbeitung der Ereignisse, etwas für die Seele.

Philippe Petit (Joseph Gordon-Lewitt) genießt den Ausblick über das New York der 70er Jahre. (photo: Sony Pictures)
Joseph Gordon-Lewitt, Sie waren in Filmen wie „Batman – The dark knight rises” zu sehen, in Steven Spielbergs „Lincoln“ oder in „Sin City 2“ von Frank Miller und Robert Rodriguez. Jetzt haben Sie erstmals mit Robert Zemeckis zusammengearbeitet. Wie zufrieden sind Sie mit dem, was Sie auf der Leinwand sehen?
Joseph Gordon-Lewitt: Es ist ein wirklich wohltuendes Bild, die beiden Türme auf diese Weise wieder zu sehen. Natürlich taucht im selben Atemzug das in uns auf, was wir mit der Tragödie verbinden. 2001 lebte ich in New York, und ich erinnere mich an den 11. September sehr gut. Aber das war ja auch einer der Gründe, warum wir den Film drehten. Es ist schön, sich auch an diese schönen Momente von 1974 zu erinnern.
Hat die Faszination für Hochseilakte bei Ihnen nachhaltige Wirkung?
Ich kann jetzt auf einem Seil balancieren, aber natürlich nicht in einer solchen Höhe. Ich habe es auf einem Drahtseil gelernt, dass nur einen halben Meter über der Erde gespannt war. Wenn man seine Balance verliert, kann man einfach runter und wieder hochsteigen. Philippe hat es mir so beigebracht. Er hat mit mir extra einen Lehrgang gemacht. Am Ende des Lehrgangs ging ich über ein Seil in zwei Meter Höhe. Da kann man nicht mehr runter steigen. Und bei den Dreharbeiten war das Seil sogar vier Meter über dem Boden. Im Vergleich zu 400 Metern ist das natürlich noch immer lächerlich, aber Sie würden erstaunt sein: Beim Balancieren in vier Metern Höhe bekommt man schon einen ordentlichen Adrenalinstoß. Und dieses Gefühl half mir enorm.
Konnten Sie Philippe Petits Besessenheit nachvollziehen?
Sicher, und ich glaube, Begriffe wie Besessenheit oder Wahnsinn beschreiben es ganz gut. Philippe sagt von sich selbst: „Als junger Mann war ich ein bisschen verrückt“. Das war auch das Faszinierende für mich: Jemanden zu spielen, der einerseits so talentiert ist und auch getrieben, so einen magischen Akt durchzuführen, und der andrerseits schon fast durchdreht. So eine Komplexität bekommt man in Hollywood nur selten angeboten. Das war wunderbar für mich.

Eines der größten Probleme: Wie bekommt man das Seil vom einen Turm auf den anderen? (photo: Sony Pictures)
Philippe wirkt energetisch, fast nervös. Aber ein Hochseilartist kann sich eigentlich keine Nervosität leisten.
Das stimmt. Es gibt eine Art Transformation, wenn er schließlich aufs Seil tritt. Vorher ist er manisch, besessen, sein Projekt durchzuziehen. Aber in dem Moment, in dem er das Seil betritt, entschwindet das völlig. Er betritt dann eine Art anderen Geisteszustand; er ist dankbar und frei von Anstrengung. Das liebe ich auch an ihm und an dem Film. Ich glaube, so wie Herr Zemeckis diese Transformation visuell umgesetzt hat, kann man sie sehr gut nachempfinden. Normalerweise sieht man in den großen Hollywood-Filmen visuelle Feuerwerke, irgendwelche Explosionen oder Schießereien. Deshalb finde ich es auch total cool, wie es Herr Zemeckis schafft, einen Hochseilakt zu inszenieren, der visuell noch viel eindrucksvoller ist, fernab von Hollywood-Klischees.

Joseph Gordon-Lewitt, Robert Zemeckis und Philippe Petit während der Vorbereitungen zu den Dreharbeiten. (photo: Sony Pictures)
Gab es für Sie einen Moment, wo Sie plötzlich dachten: Jetzt habe ich den Charakter verstanden?
Es war nicht so sehr ein Moment, sondern eher die Zeit, die ich mit Philippe verbrachte. Die acht Tage, die ich mit ihm trainierte. Also das Balancieren auf dem Seil gehört natürlich dazu. Aber es war für mich auch wichtig, zu erleben, wie er spricht, was er denkt, was er mag und was er ablehnt. Nach diesen acht Tagen dachte ich: „Okay, jetzt habe ich einen Zugang zu seinem Charakter!“ Vorab drehten wir alle Szenen mit Sir Ben Kingsley. Das war ebenso wichtig für mich. Denn der Ton des Films ist nicht streng realistisch. Auch das ist untypisch für Hollywood bei der Verfilmung von realen Ereignissen. Sir Ben kommt vom Theater und beim Theaterspielen geht es meist darum, etwas mehr aufzutragen als im normalen Leben. Die Szenen mit Papa Rudy (Ben Kingsley) haben mir geholfen, Vertrauen zu entwickeln, um diesen märchenhaften Ton zu erreichen.
Man kann „The Walk“ als großen Hochseilakt sehen, aber auch als philosophischen Akt: Ein Mann vereinigt die (damals) höchsten Gebäude der Welt, legt sich in der Mitte des Seils hin, sieht mit dem Balancierstange aus wie Jesus am Kreuz, und spricht selbst von der Schönheit, die in diesem Akt liegt. Wie empfinden Sie das?
Philippe hat versucht, mir Folgendes zu vermitteln: Wenn er auf dem Seil ist, kann er nicht mehr in Kategorien denken. Er leert einfach nur seinen Geist und fokussiert sich auf das Drahtseil. In dem Moment, in dem er anfangen würde zu denken, könnte er fallen. Es gibt kein: „Oh, was mache ich hier? Ich bin im Zentrum der Welt! Wie werden das die Leute aufnehmen.“ Er betritt viel mehr eine Arte Leere; das ist wie im Zen.