Britta Lange – „Die Entdeckung Deutschlands: Science-Fiction als Propaganda“

Wie das Deutsche Reich den Mars vereinnahmte, um Kriegspropaganda zu betreiben

Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst, stellte schon Kurt Tucholsky fest. Und so ist es kein Wunder, dass wir in militärischen Konflikten fast täglich widersprüchliche Meldungen über Angriffe, Grenzübertretungen, Invasionen und Gebietsgewinne hören. Zugleich gedenken wir zurzeit auch des Beginns des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Idealer könnte ein Buch, das sich der Propaganda im Ersten Weltkrieg widmet, kaum erscheinen. Auch wenn die Autorin Britta Lange an diese Zusammenhänge wohl nicht gedacht haben dürfte. Denn die Kulturwissenschaftlerin der Humboldt-Universität war im Rahmen von Recherchen über den Film „Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner“ zufällig gestolpert, bzw. sie fand in einem holländischen Archiv ein Fragment des Filmes, der aus dem Jahr 1916 stammt und als der erste große Auftragsfilm der deutschen Propaganda gilt. Das Buch über den Film und seine Entdeckung heißt „Die Entdeckung Deutschlands – Science Fiction Film als Propaganda“ und ist im Verbrecher-Verlag erschienen.

 

Bernd Sobolla: Britta Lange, wie sind Sie auf die Idee zu dem Buch gekommen?
Britta Lange: Der Film war ein Fund im Filmarchiv, als ich über andere Völker und Kulturen recherchierte, die während des Ersten Weltkriegs gedreht worden sind. Ich habe danach gesucht im Rahmen meiner Forschungen über damalige Forschungen an Kriegsgefangenen. Dabei bin ich die BUFA-Filmliste (Bild- und Filmamt, gegr. 1917) durchgegangen auf die Frage: Gibt es Filme über Inder, über Afrikaner usw. und kam dabei auf den Titel „Der Marsmensch“.

War ihnen dieser Filmtitel bekannt?
Dieser Film war mir vollkommen unbekannt. Ich konnte ihn damals auch nicht im Bundesfilmarchiv finden. Später stellte sich aber heraus, dass er dort unter einem anderen Titel archiviert war, nämlich „Per Fliegball nahe der Ader“ (niederländisch), also „Mit dem Flugball zur Erde“. Es gab nämlich eine niederländische Fassung von diesem deutschen Film, die wiederum gekürzt war.

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Die Wissenschaftlerin Britta Lange forscht an der Humboldt Universität Berlin zu den Schwerpunkten Kulturgeschichte und Ästhetik des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, Kolonialismus, Ton- und Filmdokumente, Erster Weltkrieg. (Photo: copyright: Britta Lange)

Das, was wir heute von dem Film sehen können, sind ungefähr fünfzehn Minuten. Aber ein typisches Filmfragment ist es wohl eher nicht; es hat schon seine Besonderheit, oder?
Das stimmt. Es scheint kein Teil zu sein, der aus der Mitte des Films herausgeschnitten wurde, weil zum Beispiel eine von fünf Filmrollen erhalten wäre. Vielmehr wurde der Film in zwei Akten niederländische untertitelt. Man kann also davon ausgehen, dass der er so wahrscheinlich für die Vorführung in den Niederlanden produziert wurde.

Obwohl kein Drehbuch mehr vorhanden ist, sind Sie in der Lage, ziemlich ausführlich den Inhalt des Films wiederzugeben – inklusive Liebesgeschichte. Wie ist das möglich?
Die Rekonstruktion dessen, was im Film passiert ist, stützt sich einerseits auf Zeitungsberichte, in denen zum Teil recht ausführlich geschildert wird, was alles zu sehen ist. Und die andere Quelle, die man dafür benutzen kann, ist eine Zensurkarte von 1924, die im Bundesarchiv / Filmarchiv in Berlin erhalten ist. Diese Zensurkarte verzeichnet bei der Neuzensur des Films in der Weimarer Republik alle Zwischentitel und Haupttitel, die in dem Film in der damaligen Fassung enthalten waren. Allerdings wissen wir nicht, ob diese Titelliste identisch ist mit der Titelliste von 1917. Da der Film einige Meter kürzer ist, gehe ich davon aus, dass einige Szenen herausgeschnitten wurden.

Auch wenn man nicht unter Verfolgungswahn leidet, wirkt der Film unglaublich modern: Wir haben es mit dem Mars zu tun, es geht ums Abhören, es gibt einen Faktencheck. Ich hatte gleich Assoziationen zur NSA und anderen Geheimdiensten.
Haben sie einen so modernen Film erwartet?
Nein, sicher nicht. Ich dachte, dass es wesentlich klamaukiger wäre. Wenn man sich den Film genau anguckt, hat er schon eine gewisse Schärfe. Denn der Erste Weltkrieg war bereits ein global und medial vernetzter Krieg. Insofern liegt es nicht fern, sich zu überlegen, ob man vom Weltraum aus die kriegführenden Parteien überwachen könnte. Besonders modern und großartig finde ich, dass detailliert durchbuchstabiert wird, in welchen Bereichen die Außerirdischen, die politisch neutral sein sollen, überlegen sind. Zum Beispiel in dem sie die Kabelnachrichten eben nicht per Funk abhören, sondern sie äthenographisch, also durch den Äther hindurch abhören. Beeindrucken ist auch der „Sprechschreiber“, den es schon auf dem Mars gibt, eine Art Fortentwicklung des Grammophons. Der kann Töne sofort wieder in schriftliche Verträge umwandeln.

Der Film sollte dem Publikum u.a. die Kriegsmüdigkeit austreiben und wurde 1916 erstmals aufgeführt. Filmproduktionen haben i.d.R. einen langen Vorlauf. D.h. die Dreharbeiten müssten ungefähr ein Jahr vorher stattgefunden haben. Kann man daraus schlussfolgern, dass die Kriegsmüdigkeit schon bald nach Kriegsbeginn 1914 eingesetzt hatte?
Der Film erlebte seine Uraufführung in Berlin im Dezember 1916 und wurde im Februar 1917 in die Kinos gebracht. Die Produktionsgesellschaft wiederum war am 1. September 1916 gegründet worden, die Mars-Film GmbH. Daraus lässt sich schließen, dass der Film sehr schnell produziert wurde, wahrscheinlich zwischen August und Oktober 1916. Das Ganze steht in Zusammenhang mit einer regelrechten Filmoffensive, die damals begann. Und der Idee, dass man Propaganda auch an der Heimatfront betreiben muss.

 

die entdeckung deutschlands

Es soll vier verschiedene Fassungen für unterschiedliche Länder gegeben haben. Wissen Sie etwas über die Unterschiede der Filmfassungen?
Es wurde ganz offensichtlich eine Art Urfassung produziert. Daraufhin kommentierte die Berliner Presse, dass der Film sehr gelungen sei, aber er an manchen Stellen etwas zu lang. Beim Kinostart im Februar 1917 konnte man in der Presse lesen, dass das Werk erfreulicherweise etwas gekürzt worden sei. Also schon damals gab es bereits zwei Fassungen. Zudem wissen wir, dass der Film 1917 in den sogenannten neutralen Ländern gezeigt wurde: In Skandinavien, den Niederlanden und wahrscheinlich auch in der Schweiz. Das machte man mit vielen Filmen, die für die deutsche Inlandspropaganda waren. Und im neutralen Ausland wollte man die Entente beeindrucken. Der Film war ein abendfüllender Film und daher vielleicht etwas langweilig für das neutrale Ausland. Dann gab es eine weitere Fassung von 1924, aus der wahrscheinlich etwas zensiert wurde, vor allem die allzu siegesgewissen Stellen. Schließlich passten die zur Realität des Kriegsendes nicht.

Wissen Sie, wie die ausländische Presse auf den Film reagierte?
Ich habe einige Hinweise gefunden. Da wird von der Vorführung in Skandinavien berichtet, und dass der Film angeblich sehr gut aufgenommen worden sei, auch von der Entente. Ein Kritikpunkt war, dass man gesehen hätte, wie die Marsbewohner, die nach Deutschland kommen, so ausgiebig speisten, dass man neidisch werden könnte. In dem Zusammenhang bemerkten die Berichterstatter, dass sie gar nichts darüber erfahren würden, wie die normale Bevölkerung ernährt wird. Und dass sei ein Mangel des Films.

Was ist für Sie als Kulturwissenschaftlerin der interessanteste Aspekte?
Für mich ist die Verbindung von Science-Fiction und Kriegspropaganda sehr beeindrucken. Ich hätte nie erwartet, dass man sozusagen den Mars vereinnahmt und zu einem Flugball und einer Zauberpille greift, um deutsche Kriegspropaganda zu betreiben. Was mir ganz modern zu dieser Zeit scheint und wohl noch heute ist, ist die Idee, dass man sich einen neutralen Beobachter vorstellt, imaginiert, den in den Weltraum verlegt und ihn sozusagen als Augenzeuge auf die Welt nach Deutschland kommen lässt, um hier die Fakten zu bezeugen, und damit den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung zu bezeugen. Tatsächlich ist das gleiche Muster noch mal 2002 bis 2004 vom Deutschen Bundestag angewendet worden. Denn da wurde eine Kinderfilmserie hergestellt, von Außerirdischen, die das Parlament im Reichstag besuchen und sich erklären lassen, wie eine parlamentarische Demokratie funktioniert. Nicht dass das dasselbe wäre, aber tatsächlich geht es auch hier darum, einen neutralen Beobachter zu finden, der nicht auf der Erde verortet ist. Es hat also kaum an Aktualität verloren.

Ich war total erstaunt zu erfahren, dass Künstler wie Georg Grosz und John Heartfield bei der Herstellung deutscher Filmproganada involviert waren. Die marsianische Rahmenhandlung von „Die Entdeckung Deutschlands“ wird so zu einem Zeichen der künstlerischen Avantgarde. Das wirkt wie ein Widerspruch, zumal diese politisch traditionell eher links orientiert war und Heartfield und Grosz ihre Namen im Jahr 1916 aus Protest gegen den Krieg sogar anglisiert hatten.
Georg Grosz und John Heartfield waren vom Auswärtigen Amt beauftragt worden, die Filmpropaganda zu reformieren, weil man spätestens im Laufe des Jahres 1917 verstanden hatte, dass Filmpropaganda sehr einflussreich war. Das BUFA  hat dann die Strategie entwickelt, auch künstlerisch wertvolle Filme herzustellen. Und dafür waren bekannte Autoren verpflichtet worden, darunter auch bildende Künstler wie Heartfield und Grosz. Diese beiden haben sich in positiver Weise auf den Film „Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner“ bezogen, in dem sie sagten, dass Verbindung von Groteske, Komik und Kosmos etwas sei, was sie für weitere eigene Film verwenden könnten und weiterführen wollten. Sie haben dann auch tatsächlich Filme hergestellt – z.B. „Die zeichnende Hand“ – die zum großen Teil nicht erhalten sind. Heartfield und Grosz waren im linken Spektrum verortet und haben dennoch zeitweise für die Filmpropaganda gearbeitet.

Einen besonderen Stellenwert hat meines Erachtens auch die Frau im Film, die den Namen Marsilietta hat.
Durchaus. Der Film handelt ja von drei Marsianern, von zwei Männer und einer Frau. Der eine Mann ist Journalist, der andere Erfinder. Und man fragt sich: „Warum braucht man jetzt eigentlich noch die Frau Marsilietta?“ Hier zeigt sich die Verwandtschaft mit anderen Kriegspropaganda-Filmen. Marsilietta ist eben da, um das Herz-Schmerz-Thema, um die Love Story einzuführen. Was eigentlich ziemlich toll ist. Aus den Zwischentiteln von 1924 geht hervor, dass sie offenbar von den anderen beiden allein gelassen wurde. So lässt sie sich von einem verwundeten deutschen Soldaten auf Heimaturlaub durch die Stadt führen. Und es deutet sich an, dass sich zwischen den beiden etwas entwickeln könnte. Was dann aber irgendwann abbricht. Ich denke, das ist ein Potential des Films, was wir auch aus anderen Büchern kennen. Nämlich die Vorstellung, dass sich Marsianer und Deutsche verbinden könnten. Und daraus würde sich sozusagen eine ganz andere Zukunftsvision vom Gewinn des Krieges entwickeln.

 

Das Buch „Die Entdeckung Deutschlands – Science-Fiction als Propaganda“ von Britta Lange ist im
Verbrecher Verlag in Berlin erschienen. Das Werk ist in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek entstanden und wurde von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen herausgegeben. Es hat rund 100 Seiten und kostet 14,- Euro.