Andreas Lewin – „Doku.Arts“

„Wir müssen uns quasi jedes Jahr tot stellen“

In Berlin feiert das Dokumentarfilmfestival „Doku.Arts“ sein 10-jähriges Jubiläum. Das Festival präsentiert vom 6. bis zum 23. Oktober im Zeughauskino ausschließlich Dokumentarfilme über Künstler, ihren Schaffensprozess und ihr Leben: 22 Filme aus 16 Ländern über Architektur und Bildende Kunst, Musik und Literatur, Kino und Fotografie. Die Filme, an denen die Macher zum Teil viele Jahre gearbeitet haben, zeigen nicht nur die Künstler und ihre Werke, sondern sind selbst poetisch-visuelle Meisterwerke. Wobei es in diesem Jahr einen Schwerpunkt für Essayfilme gibt. Ein Gespräch mit dem Festivalgründer und -leiter Andreas Lewin.

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In dem Eröffnungsfilm „Notes on Blindness“ schildern die Regisseure Peter Middleton und James Spinney, wie der Theologe John Hull mit seiner Erblindung umgeht: Er „schreibt“ seine Autobiographie mit einem Audiotagebuch. (Photo © Peter Middleton, James Spinney)

 

Bernd Sobolla: Andreas Lewin, wie sind Sie vor 10 Jahren auf die Idee gekommen, „Doku.Arts“ zu gründen? Schon damals gab es rund 100 Filmfestivals jedes Jahr allein in Berlin?

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Andreas Lewin, Gründer und Leiter des Doku-Arts-Filmfestivals. (Foto: Doku-Arts / Wojciech Szepel)

Andreas Lewin: Das stimmt nicht ganz so. Es gab zwar schon viele Festivals, aber der (Film)Festival-Boom ging erst Anfang der 2000er Jahre so richtig los. Etwa parallel zur Gründung von „Doku.Arts“ wurde z.B. auch das Forum Expanded (Die Erweiterung des Berlinale-Forums) gegründet oder das Radialsystem als Veranstaltungsort (auch für Festivals). Ich habe damals festgestellt, dass Filme, die sich mit Kunst auseinandersetzen, bei den großen Dokumentarfilmfestivals eigentlich eine Nebenrolle spielen. Dass politische oder soziale Themen immer im Vordergrund stehen. Das fand ich schade und habe die Idee in die Akademie der Künste getragen, wo ich damals Stipendiat war: „Warum machen wir nicht über alle Sektionen hinweg – also die Akademie ist ja in sechs verschiedene Sektionen bzw. Kunstbereiche unterteilt – wieso machen wir nicht über alle Sektionen hinweg ein Festival, um diese Filme zu feiern?“

Doku.Arts, Akademie der Künste Berlin

Großes Zuschauerinteresse an „Doku.Arts“ 2006 in der Akademie der Künste in Berlin. (Photo © Doku.Arts)

Dieses sollte verschiedene Fragen thematisieren: Wie arbeiten Künstler heute? Wie sind die Arbeitsprozesse? Wie setzen sich Filmemacher mit Kunst auseinander, mit Musik, Literatur, Architektur? Das ist sofort auf fruchtbaren Boden gefallen. Wir haben dann „Doku.Arts“ 2006 in der Akademie der Künste gegründet. Und es lief dort zwei Jahre sehr erfolgreich. Dann kam der Einschnitt, es gab interne Umstrukturierungen, und das Festival musste sich anderswo verorten. Zu meiner Überraschung kam sehr schnell eine Einladung von dem sehr renommierten Filmmuseum Amsterdam. Das heißt heute EYE Filminstitut, die Kinemathek der Niederlande sozusagen, das Festival dort weiter zu machen. Also lief „Doku.Arts“ drei Jahre in Amsterdam. Dann gab es Wahlen in Holland mit dem berühmten Rechtsruck, mit dem ein beispielloser Kahlschlag in der Kulturlandschaft erfolgte. Auch „Doku.Arts“ fiel dem zum Opfer. Inzwischen sind wir seit fünf Jahren im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums. Dort sind wir sehr zufrieden, und dort wollen wir auch bleiben.

Wie hat sich das Festival im Lauf der Jahre entwickelt und verändert?

Am Anfang haben wir uns sehr stark auf die Arbeitsprozesse der Künstler konzentriert. Aufgrund der deutschen Förderpolitik mussten wir uns zwangsläufig  stärker thematisch ausrichten. Das ist ein bisschen verrückt. Denn wir müssen uns jedes Jahr quasi tot stellen, als hätten wir nie existiert, um ein neues Projekt zu erfinden, was möglichst nichts mit unserer eigenen Geschichte zu tun hat. Also mussten und müssen wir uns inhaltlich viel stärker und spezifischer auszurichten, was die Arbeit wirklich zu einer Herausforderung macht.

Können Sie das anhand von Bespielen erläutern?

Zu den unterschiedlichen Themen, die wir in den letzten 10 Jahren behandelt haben, gehörte z.B. der Architekturfilm, die Langzeitbeobachtung von Bauprozessen. Dann ging es um das sogenannte Recycle-Cinema oder Second Hand Cinema, wie man es nennt. Da haben geschaut, wo und wie heute im Dokumentarfilmbereich Archivmaterial verwendet wird. Und welche Möglichkeiten es gibt, Archivmaterial zu zitieren. Dann gab es immer auch regionale Schwerpunkte: Also der Iranische Dokumentarfilm war ein Schwerpunkt. Wieder ein anderer Schwerpunkt widmete sich der Literatur.

Welche Höhepunkte durften Sie erleben?

Es gibt dann immer wieder Überraschungen, dass man einen Film findet, entdeckt und plötzlich hat der Film nach dem Festival einen unglaublichen Erfolg. Dazu gehörte z.B. Duncan Campell´s Film „It for others“. Der hat zwei Monate nach der Deutschlandpremiere bei „Doku.Arts“ den Turner Prize in Großbritannien gewonnen. Er wurde sehr heiß diskutiert, weil es ein Essay-Film war. Das ist übrigens ein Grund, warum wir uns dieses Jahr auf Essay-Filme fokussieren. Eine tolle Erfahrung war es, Agnes Varda als Ehrengast in Amsterdam zu haben, die sehr viele Filme, über und mit Künstlern gedreht hat.

 In diesem Jahr widmet sich das Festival vor allem dem Essay Dokumentarfilm: Ist das ein Versuch, ihn zu retten oder eher den Vormarsch des Genres zu feiern?

Das ist eine sehr treffende, ambivalente Beschreibung. Es gibt immer mehr Essay-Filme. Die werden vor allem im Museumsbereich, in der Kunstszene, in Galerien gezeigt. Leider immer weniger im Fernsehen. Früher hatten solche Filme auch einen festen Fernsehplatz. Das gibt es nur noch bei Arte.

Warum erleben wir Essay Dokumentarfilme kaum noch im Fernsehen?

Essayfilme zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie eben nicht formatiert sind wie gesamte Medienlandschaft. Die komplette Medienlandschaft ist ja offensichtlich durchformatiert. Und der Essay-Film ist per se ein offenes Format.

Samuel Beckett, Ross Lipman, Alan Schneider

Samuel Beckett unternahm 1965 den einzigen „Ausflug“ in die Filmbranche. In „Film“ verfolgen er und Regisseur Alan Schneider mit der Kamera einen Unbekannten (Buster Keaton) durch New York. (Photo © Ross Lipman aus NOTFILM)

„Doku.Arts“ bietet in diesem Jahr auch ein Symposium, das sich mit wichtigen  Fragestellungen zur filmischen Entwicklung befasst. Dabei geht es um das Zusammenbringen von Kunst, Wissenschaft und Philosophie im Film: Können Sie erläutern, was das in diesem Jahr zum Thema „Essay Dokumentarfilm“ heißt?

Es gibt Philosophen, die sich mit unserer Wahrnehmungsfähigkeit und Kritikfähigkeit auseinandersetzen, was die Analyse und Wahrnehmung von Bildern und Filmen betrifft. Und wir zeigen einige Filme, wo es um eine Philosophie des Blicks und der Bildwahrnehmung geht. Selbst Samuel Beckett hat darüber reflektiert und war an einem Film beteiligt. Er hat das Drehbuch zu dem Film geschrieben, der den Titel „Film“ trägt und setzte sich darin mit filmphilosophischen Fragen auseinander. Ein anderes Beispiel ist „Absent God“ des israelischen Regisseurs Yoram Ron, der viele Jahre an diesem Film gearbeitet hat. In diesem geht es um die Philosophie von Emmanuel Levinas, der seine Philosophie eine Art optische Ethik geschaffen hat. Der Filmemacher setzt diese Philosophie in Beziehung zur heutigen Politik im Nahen Osten und sucht nach Verbindungen in allen drei wichtigen Religionen der Region.

Bietet sich der Essay-Film eigentlich besonders bei autobiographischen Werken an?

Ja, zumindest wenn die Autobiographie über die persönliche Geschichte hinaus geht und auch Zusammenhänge universeller oder philosophischer Natur aufzeigt. Dann bietet sie idealen Stoff für den Essay-Film.

Ramón Gieling, Matthäus Passion Stories

Grandios: Ramón Gierling lässt Künstler über ihre Begegnung mit Bachs „Matthäus Passion“ reflektieren. (Photo © Ramón Gieling aus „Erbarme dich – Matthäus Passion Stories“)

Für mich ist „Erbarme Dich – Matthäus Passion Stories“ von Ramón Gieling ein besonderes Juwel: Ein Obdachlosenchor probt in einer heruntergekommenen Amsterdamer Kirche Bachs „Matthäus Passion“, während Künstler wie der Regisseur Peter Sellars, die Schriftstellerin Anna Enquist oder die Sopranistin Olga Zinovieva über ihre Erfahrung mit dieser Musik sprechen.   

Ich glaube, dass das formale Prinzip, also wie  Musik und Gespräch ineinander verwoben sind, so großartig gelungen ist, wie ich es selten gesehen habe. Das ist von einer großen Schönheit. Und es rührt sehr an, wie hier die persönlichen Geschichten der Künstler mit der Musik verflochten sind. Gleichzeitig gibt es auch eine sehr stringente Form, so dass immer auch eine Distanz entsteht zu dem, was kreiert wird. So hat die Imagination des Zuschauers trotzdem viel Platz in diesem Film.

 Gibt es einen Film, auf den Sie sich besonders freuen?

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In „Call her Appelbroog“ wird Ida Appelbroog von ihrer Tochter Beth B. portraitiert. (Photo © Beth B aus „Call her Appelbroog“)

Für mich ist ein ganz besonderes Highlight der Film über Ida Applebroog, „Call her Appelbroog“. Das ist ein kleines Juwel der New Yorker Independent Filmregisseurin Beth B.. Sie hat einen Film über ihre Mutter gemacht, die Malerin ist. Appelbroog hat bei der Documenta 13 ausgestellt und eine Performance geboten. Der Film ist ein besonders charmant, ambivalentes Werk über die Annäherung der Tochter an ihre Mutter sowie deren Widerwillen, dass ein Portrait über sie gedreht wird.

„Doku.Arts“ (6.-23. Oktober)

Deutsches Historisches Museum, Zeughauskino